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Kolumnen

Der Scherbenhaufen oder Was von 68 übrigbleibt

„Feuer in Paris, Rauch in den Strassen von Berlin.“ Mit dieser Zeile beginnt das Lied „Summer 68“ von Polo Hofer. Aber diese Aktionen von Chaoten waren bei Weitem nicht die zentrale oder einzige Aktivitätder 68er Bewegung. Natürlich hatten die Krawalle am Limmatquai n Zürich die ganze Schweiz in Atem gehalten, aber wie Wolfgang Kraushaar in seinem Buch „1968“ schreibt, „wurde damals der gesamte Kanon an sozialen Werten auf den Prüfstand gestellt.“ Sozusagen ein Rundumschlag gegen alle Konventionen.
Das Jahr 1968 fiel mit dem Ende meiner Gymnasialzeit zusammen und ergo auch mit dem Ende meiner Pubertät. Auch wir Mittelschüler waren an der Bewegung beteiligt, aber nur am Rande, hatten uns doch die Philosophielehrer mit dem marxistisch-leninistischen Basis-Überbau den Speck der Revolution durch den Mund gezogen. Selbstredend wollten wir teilhaben an der mitteleuropäischen Kultur- und Politrevolution, aber nur gerade so viel, dass es den bequemen Kokon, der ein ungestörtes, feudales Leben erlaubte, nicht störte, geschweige denn zerstörte. Auch ich war natürlich von dem „gigantischen Befreiungsschlag“, der sich offenbar offerierte, begeistert, hatte aber, bedingt durch die Zielrichtung Studium, wie meine Kommilitonen auch, eigentlich keine Zeit für Aufruhr, Rebellion und Strassengewalt.
In der Provinz wo ich aufgewachsen bin, herrschte eine noch weitgehend heile Welt.
Die Globuskrawalle waren Sache der Halbstarken, der Jeans- und Lederjackenträger. Das waren Chaoten, unfokussiert, unorganisiert und völlig apolitisch, denen man sich nicht anschliessen wollte. Schon ein, zwei Jahre vorher waren wir jedoch auch in der Provinz vor allem durch die psychedelische Musik der Beatles von der Hippie-Bewegung eingenommen worden. Am Ende der Pubertät, als romantisch verklärte Esoteriker, war die Begeisterung für diesen Lifestyle, wie man heute sagen würde, enorm. Auch wir wollten Blumenkinder sein, uns zu einer betont antibürgerlichen und pazifistischen Lebensform bekennen und dies in Kleidung, Auftreten und Frisur zum Ausdruck bringen. Aber retrospektiv muss ich mir eingestehen, dass ich als Blumenkind ein apolitisches Weichei war. Alle Hippies waren das. Der „Summer of Love, Sex, Drugs an Rock n’Roll“ war natürlich prädestiniert dafür, diese romantisch-naive Einstellung auszuleben. Was hat’s gebracht? Der freizügige Sex hat uns im “long run” schliesslich die AIDS-Seuche eingebrockt, der forcierte Umgang mit Drogen die ganze Misere der Drogenszene mit all ihren Auswüchsen und kaum beherrschbaren Problemen. Konsum war gross geschrieben, nicht nur Kleider und Schallplatten, sondern leider eben auch Drogen. Bezüglich Rock n’Roll muss man sagen, dass die Hymne der Hippies “If you go to San Francisco” von Scott McKenzie bloss ein sehr laues Lüftchen war. Reiner Kommerz. Das hatte weder etwas von der Schlagkraft von „Satisfaction“, noch von der psychedelischen Melancholie des Songs „While My Guitar Gently Weeps“ oder der Exzentrizität von „Ob-La-Di, Ob-La-Da“.
Sowohl die Hippie- wie auch die 68er-Bewegung waren Vorläufer der Massenkultur.
Die antiautoritäre Erziehung war ebenfalls ein vollständiger „Rohrkrepierer“. Keith Richards von den Rolling Stones hat es in seinen Memoiren voll auf den Punkt gebracht: „Wir mussten immer tun was wir wollten.“ Es ist für Kinder und Jugendliche schlecht und sie finden es selber nämlich inakzeptabel, keine Leitlinien zu haben.
Zu den vier „Erscheinungen“, welche die Zeit um 1968 geprägt haben, gehörten, neben den Halbstarken und den Hippies, noch die subversiven Künstler und die „Politos“ genannten Ideologen. Zu den Politos waren einerseits die Mitglieder der „Progressiven Organisationen Schweiz“ (POCH) und andererseits die revolutionäre marxistische Liga zu zählen. Diese Leute benahmen sich aber totalitär-faschistoid. Mittels Obstruktionen, Sticheleien und Provokationen störten sie den Universitätsbetrieb. Eine attraktive, ideologische Marschrichtung, die auch eine stattliche Zahl Mitläufer gefunden hätte, konnten sie jedoch nicht vorgeben. Politisch ist von der doch so politischen 68er-Bewegung schliesslich nur ganz wenig geblieben.
Wie bei jeder extremen Ideologie hat auch hier das Pendel zu weit ins Konträre ausgeschlagen. Zum Glück für die zukünftigen Generationen sind die Bestrebungen dieser Chaoten und Ideologen im Sande verlaufen. Die 68er Bewegung hat auch weder die Nachhaltigkeit betreffend jeglicher Art von Ressourcen, noch das Umweltthema entdeckt. Die Öko-, die Frauen- und auch Antiglobalisierungsbewegung danach waren bedeutend erfolgreicher gewesen als jede Ideologie von 1968.
Aus uns 68er wurden schliesslich entweder, wie ich, Arrivierte - in überwiegender Mehrzahl -, Emigranten ins eigene Innere oder Aussteiger. Tatsache ist aber, dass die Gesellschaft weder zuvor noch danach so grundlegend infrage gestellt worden ist, wie in jenem Jahr. Aber langfristig gesehen ist von dieser Bewegung lediglich ein Scherbenhaufen übrig geblieben.
„Mir sii es Paar gsi, es isch alles klar gsi, det im Summer 68“ lautet der Refrain von Polo Hofers Lied. Meine damalige Freundin, meine heutige Frau, und ich - echte Postachtundsechziger - sind nach wie vor ein Paar und es ist auch 50 Jahre danach weiterhin alles klar. In Abwandlung von Goethes Ausspruch anlässlich der Schlacht von Valmy, denken wir mit Stolz daran „dabei gewesen zu sein“, ging es doch bei 68 um den Mut, an allen Gewissheiten zu rütteln.