Nasenstüber

Kolumnen

Hohe Zeit für Klugscheisser oder Wie wäre es mit einem Social media-lockdown

Momentan überschüttet man mich in den sozialen Medien mit Hinweisen auf Corona-Spezialwissen und spezifische Hintergrundinformationen, die nicht für jedermann zugänglich seien. Jeder scheint zu glauben, er fände in irgendeiner verstaubten, sprich apokryphen, digitalen Ecke noch ein Quäntchen Coronakenntnisse, die es gelte umgehend und breitgestreut zu posten. Corona für den Hausgebrauch sozusagen.
Es ist ja schon klar, dass man in Zeiten der Unsicherheit versucht, sich an jedem erdenklichen Strohhalm festzuhalten. Und eigentlich ist es ja auch lieb gemeint, diese Strohhalme mit den Mitbenutzern dieser Medien teilen zu wollen. Aber wenn sich allzu viele an einem Strohhalm festhalten, wird er wohl oder übel umknicken. Leider waren die Mehrzahl der Mitteilungen Halbwahrheiten und Nahrung für Panikmache. Es sind vielfach apokalyptische Berichterstattungen. Die katastrophensüchtigen Medien sind randvoll mit emotionalisierten Meldungen. Dabei wissen wir, dass Angst ein schlechter Ratgeber ist.
Wie dem auch sei, wir haben es auf den Plattformen der sozialen Netzwerke mit unzähligen selbsternannten Experten, Virokraten, zu tun. Bar jeglicher wissenschaftlichen Erfahrung, hält sich nämlich männiglich aufgrund der täglich zugefütterten Social-media-Rationen für einen Experten. Diese sind immer nur Fachleute für einen Ausschnitt der Wirklichkeit («Fachidiot» ist der polemische Begriff dafür), sie widersprechen einander zuweilen, manchmal sogar, wenn neue Erkenntnisse auftauchen, sich selbst. Das Selbstvertrauen der Pseudoexperten ist riesig, denn diejenigen, die nur wenig über etwas wissen, tun ihre Meinung am selbstbewusstesten und lautesten kund. Wer gerade einmal an der Oberfläche eines Themas gekratzt hat, ist berauscht von dem kleinen Schluck Wissen, den er gerade zu sich genommen hat, überschätzt das eigene Vermögen und schlägt fachkundige Argumente in den Wind. (Im Gegensatz dazu, neigen diejenigen, die sich vertieft und wissenschaftlich mit einem Problem auseinandersetzen, dazu, sich von der Komplexität des Themas einschüchtern zu lassen.)
Noch nie wurden in so kurzer Zeit so viele Fragen gestellt. Das Fragezeichen ist sozusagen über Nacht zum Satzzeichen des Jahres geworden. „Wann flacht sich die Kurve ab?“ war die brisanteste Frage, die schon sehr früh nach Ausbruch der Pandemie gestellt worden war und in den Medien mantramässig repetiert wurde. Die Epidemiologen waren schnell mit einer Antwort zur Hand: Wenn die Reproduktionszahl unter den Wert von eins zu liegen kommt. Doch diese wissenschaftlich unterfütterte (korrekte) Auskunft interessierte niemanden. Gefragt war ein Datum, respektive ein Zeitrahmen. Diesbezüglich kursierten denn auch schon die wildesten Spekulationen im Netz obwohl sämtliche Parameter zur Beantwortung der Frage noch weit in der Zukunft, sprich im Ungewissen, lagen. Aktuell stellen sich viele die Frage, ob es nötig gewesen war so restriktive Massnahmen wie einen „lockdown“ gegen das Virus zu ergreifen. Es sei Zeit der Politik die Entscheidungshoheit zu entreissen und die juristische Seite der ganzen Krise aufzurollen, heisst es. Dabei vergessen wir offenbar, dass zu Beginn der Pandemie in zahlreichen Staaten, viele Leute von sich aus eine härtere Gangart angeschlagen, sprich restriktivere Anordnungen gefordert und denen auch Folge geleistet haben, als von der Regierung vorgeschrieben. Und interessanterweise ist die Mehrheit der Bevölkerung auch damit einverstanden weitere Beschränkungen und sogenannte “Trackingprofile“ zuzulassen. Auf die Frage, warum die Regierungen so extreme Mittel einsetzen, obwohl Corona dem Verlauf einer Grippewelle ähnele, antwortete der US-Epidemiologie Wittkowski lakonisch: „Facebook and Twitter“. So sind wir unausweichlich wieder bei den sozialen Medien gelandet. Sie haben es geschafft, ein weiteres Mal die Nachrichtenhoheit an sich zu reissen und den Gang der Dinge zu bestimmen.
Noch schlimmer als Covid-19 bestreffend, sind die selbsternannten Experten für das Andamente in Bezug auf die Lockerungsmassnahmen. Hier überstürzen sich die Kommentare in den sozialen Netzwerken zu den offiziellen Mitteilungen geradezu. Noch selten wussten so viele Klugscheisser was aktuell opportun ist und wann welche Massnahmen zu beenden respektive zu ändern sind.
Die Aufnahmekapazität für Informationen (die sogenannte „social media bullshit capacity“), aktuell das Coronavirus betreffend, ist jedoch bei den meisten schon längstens überschritten. Auch in der digitalen Welt ist es zu einer exponentiellen Überwucherung mit vielfach fragwürdigen, oft sogar falschen Informationen zum aktuellen Thema Nummer Eins gekommen. Dem müsste unbedingt endlich Einhalt geboten werden. Analog zu den physikalischen Massnahmen zur Eindämmung der Ansteckung, ist diesem Pseudoinformationstsunami nur mit einem „Social-media-lockdown“ beizukommen. Erst danach flacht sich die Kurve der digitalen Rundumschläge, Verwirrungen und Äusserungen, die nur der Panikverbreitung dienen, ab und wir können wieder substantielle, wissensunterfütterte Inhalte zum Thema nicht nur konsumieren, sondern sogar apperzipieren. Trotzdem befürchte ich, dass die sozialen Medien weiterhin eine Müllhalde für Bullshit bleiben werden.
Glücklicherweise gibt es in diesen Krisenzeiten noch die Qualitätsmedien mit ihrer ausgewogenen und um Objektivität bemühten, fundierten Berichterstattung.
Aber von diesen sind leider auch einige auf den Boulevardjournalismus und die Panikmache eingeschwenkt. So habe sich sogar die renommierte „New York Times“ letzthin eindeutig in Alarmismus geübt.