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Kolumnen

Die Kehrtwende oder Das Zeitalter von Lug und Trug

Mit seinem von der Naturphilosophie Epikurs inspirierten Lehrgedicht „De rerum natura“ hatte der römische Dichter Lukrez die atomistische Struktur des Universums beschrieben und es sich zur Aufgabe gemacht, das Dunkel der Unwissenheit aus den Köpfen zu vertreiben sowie die Menschen von einem falschen Glauben an die Götter zu bewahren und von der Angst vor dem Tod zu befreien. Seinen Erkenntnissen war kein Erfolg beschieden. Diesem Konzept war keine allgemeine Akzeptanz beschieden und das Werk ist über lange Jahrhunderte wieder in Vergessenheit geraten. Damit war auch ein erster Anflug von Aufklärung im Sande verlaufen.
Die nachmalige Aufklärung des 18. Jahrhunderts wird oft und gerne als „die Wende“ apostrophiert. In der Tat handelte es sich dabei um eine schleichende Revolution. Vor dieser grossen Wende war das Meiste Hokuspokus, Aberglaube, schwarze Kunst oder Hexerei. Jede Krankheit, jedes nicht gerade augenfällige Phänomen oder jedes Unglück wurde einer geheimnisvollen Kraft, der Teufelskunst oder Geisterbeschwörung angelastet. Oft war deshalb auch schnell ein Schuldiger gefunden. Denunziation, Inquisition und Intrigen hatten Hochkultur. Vieles war Blendwerk, wurde der Zauberei zugeordnet oder als Teufelswerk apostrophiert. Scherbengerichte waren an der Tagesordnung.
Die Aufklärung brachte in vielerlei Hinsicht endlich Licht ins Dunkel, wobei hier der Begriff Licht am ehesten mit Wahrheit zu übersetzten ist. Die Vernunft wurde als universelle Urteilsinstanz ins Zentrum gerückt. Damit wollten die Vordenker der Aufklärung erreichen, dass die starren, überholten, vielfach falschen althergebrachten Vorstellungen und Ideologien über den Haufen geworfen wurden.
Rationales Denken war angesagt. Insbesondere mit dieser Geisteshaltung sollten alle den Fortschritt hemmenden Strukturen endlich überwunden werden. Aber wie schwer es ist, sich gegen den Widerstand von Tradition, Vorurteilen und Gewohnheitsrecht durchzusetzen, haben Sie wohl selber auch schon erfahren.
Das schwierigste Unterfangen der Aufklärer war es, Akzeptanz für neu erlangtes Wissen zu schaffen. Dazu musste ein Kampf gegen Vorurteile und Irreführungen zu Gunsten der Naturwissenschaften geführt werden. Der deutsche Philosoph Ludwig Marcuse bemerkte dazu: „In Kants Jahren konnte der Aufklärer nicht aufklären, weil man ihn nicht liess, zu unserer Zeit nicht, weil man ihn nicht liest.“ In einer weiteren Arena wurde um religiöse Toleranz gerungen und gesellschaftspolitisch wurde der Ruf nach mehr persönlicher Handlungsfreiheit und Bildung laut. Bürgerrechte sowie allgemeine Menschenrechte wurden gefordert und das Gemeinwohl sollte als Staatspflicht anerkannt werden.
Aufklärung beruhte zum einen auf unbegrenzter Wissbegier. Zum anderen setzte der geistige Aufbruch eine vertrauensvolle, auf Wahrhaftigkeit gegründete Verbundenheit voraus. Die Aufklärer kämpften primär gegen einen autoritären Staat und eine dogmatisch starre Kirche. Vor allem diesen beiden Institutionen mussten sie ihre geistigen und politischen Freiheiten abringen, immer unter der Bedrohung, deren noch bestehende Macht am eigenen Leib und Leben zu spüren zu bekommen. Zudem forderten die Aufklärer eine Gewaltentrennung. Sie sprachen von der „Unversehrbarkeit des Einzelnen“. Aufklärerische Impulse beeinflussten aber auch die Literatur, die Schönen Künste und die Politik. Sie waren wichtige Voraussetzungen sowohl für die Amerikanische wie auch für die Französische Revolution. Die Aufklärung setzte die Grundsteine für Werte wie Freiheit, Gleichheit, Toleranz und Rationalität, aber auch für die Trennung von Kirche und Staat. Vernunft, Rationalität und Objektivität setzten sich schliesslich gegen Irrationalität, kirchliche Dogmen und die Herrschaft der Monarchen durch.
Nun stehen wir wieder vor einer Wende, allerdings leider vor einer Kehrtwende. Eine Wende hin zu Lug und Trug oder eben zurück zu Irreführung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und Teufelskunst. Es bleibt ein absolutes Rätsel, was zu deren Beginn steht. Was hat die Kehrtwende der Aufgeklärten zu Illusion, Betrug und offenbar zu einer besonderen Vorliebe für Lügen ausgelöst? War es ein Computerprogramm? Konkret “Photoshop”, mit welchem man Fotografien auf jegliche erdenkliche Art und Weise retouchieren – im Klartext: verfälschen – konnte? Angeprangert wurde auch ein Softwareprogramm namens „Powerpoint“, dessen verfälschte Aussagen Auslöser des Irakkrieges gewesen sei.
Zu den Feinden der offenen Gesellschaft zählen explizit Populisten und Propagandisten. Sie haben in erster Linie die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung und der sozialen Netzwerke genutzt, um im öffentlichen Raum mit Fake News, mit Konspirationstheorien sowie mit Halb- und Viertelwahrheiten ‚zu punkten’ oder Verwirrung zu stiften. Es ist leider tatsächlich so, dass was unzählige Male wiederholt wird, auch wenn es Unsinn ist, schliesslich zur vermeintlichen Wahrheit erhoben wird. „Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist.“ um Alfred Polgar, einen österreichischen Schriftsteller, zu zitieren. Unfug, frei Erfundenes und alternative News verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, weil deren „Thrill“ und Mystifikation tausend Mal attraktiver sind, als die banalen, nüchternen Tatsachen. Zudem ist die Erstellung von Fake News deutlich billiger als mühsames Recherchieren und die Suche nach echten Fakten. Meinungen haben inzwischen den Status von Fakten angenommen. Meinungen werden gleich gewichtet wie wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Nachrichten verlieren in unserer Zeit überdies noch weiter an Wert, weil ein absolutes Überangebot besteht.
Google und Facebook diktieren heutzutage was das Publikum zu sehen und zu lesen bekommt. Die Plattformbetreiber Facebook und Twitter behandeln „Content“ völlig gleichwertig, egal ob die Aussagen stimmen oder nicht und wir sind selber schuld, weil wir anstelle von Qualitätsmedien zu lesen, uns von diesen Microblogs und süffigen Fastfood-Medien abspeisen respektive einlullen lassen. Die Medien sind zur Religion geworden. Egal was sie verbreiten, alles wird geglaubt. Die Facebook-Einträge gelten mittlerweile als Evangelien. Niemand hinterfragt deren Korrektheit, Vollständigkeit, Finten oder Hinterhältigkeit. Es ist zu einer verluderten Haltung gegenüber der Wahrheit und des rationalen Denkens gekommen. Für die Postmodernisten ist wissenschaftliche Evidenz stets relativ. Sie ist in deren Augen nicht besser als persönliche Meinungen und persönliches Empfinden.
Vor nicht allzu langer Zeit entbrannte ein medialer Zwist betreffend der Schweizerischen Depeschenagentur. In unserer Zeit der Digitalisierung sei eine solche Filter-Institution nicht mehr notwendig, wurde argumentiert und könne ersatzlos gestrichen werden, weil die Informationen nun direkt vom Absender zu den Medien gelangen. Damit werden jedoch Fehlinformationen, Geflunker, Unwahrheiten und Schwindel Tür und Tor geöffnet. Weil das Geld immer knapper wird, werden auch die Redaktionen der Printmedien ausgedünnt. Auch die Journalisten hätten keine Gatekeeper-Funktion, keine Schleusenwärter-Funktion mehr, wird als Argument ins Feld geführt. Dabei käme doch just im Zeitalter der Fake-, Alternate- oder Wie-auch-immer-falsch-News den Filterfunktionen einer professionellen Redaktion eine bedeutende, ganz und gar entscheidende Rolle zu um uns vor all den Unwahrheiten, Ammenmärchen, Irreführungen und Arglisten zu bewahren. Aber Kontrollinstitutionen werden in unserer Zeit argwöhnisch beobachtet, meistens sogar als Bevormundung angesehen.
„Ohne kritische Kontrollinstanzen in den Medien breiten sich mit grosser Wahrscheinlichkeit schleichend Korruption und mafiöse Strukturen in Politik, Verwaltung, Wirtschaft und auch im Kulturleben und im Sport aus.“ habe ich unlängst in einem Artikel gelesen und dieses Szenario scheint mir äusserst wahrscheinlich zu sein. „Die Philosophie der Aufklärung ist tot.“ sagte der französische Schriftsteller Michel Houellebecq kürzlich in einem Interview. Auch er scheint Recht zu bekommen. Die Prinzipien der Aufklärung sind in Gefahr. Angegriffen ist nicht so sehr das aufklärerische Wissenwollen, sondern vor allem das Wahrhaftigkeitsethos.
„Lügen haben kurze Beine“, sagt der Volksmund. Dem widerspricht Mark Twain, der sagt: „Die Lüge schafft es einmal um den Erdball, während die Wahrheit immer noch dabei ist, sich die Schuhe zu binden“.
Der amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt wiederum hat neben der Lüge vor einigen Jahren eine weitere Kategorie von üblen Äusserungen definiert, nämlich „Bullshit“ (zu Deutsch: „Bocksmist“). Ein ordentliches Quantum Bocksmist ist mir dann schon noch hundert Mal lieber als auch bloss wenige Fake News. Auch die Kategorie „Quatsch“ ist bedeutend leichter verdaulich, als all die infamen Lügen, die zurzeit herumgeistern.
Immerhin haben wir ja glücklicherweise neben den „fake news“ die „political correctness“!