Nasenstüber

Kolumnen

Das Jahrzehnt der Sprache

Das angebrochene Jahrzehnt sei dasjenige der Sprache, heisst es. Das vorgängige – offenbar dasjenige der Schrift - war vor allem geprägt von Kurzmitteilungen. SMS und E-Mail hatten Hochkonjunktur, Twitter, Facebook sowie all die anderen unsozialen Medien waren im Hype. Die Einträge, neudeutsch „posts“, begannen jedoch immer mehr der gesprochenen Sprache zu ähneln, sodass sogar mehrere Lehrer forderten, dass die Schüler künftig phonetisch schreiben dürfen sollten. Auch die Pendlerzeitungen und Online-Newsportale mit ihren Titeln, die suggerieren man müsse den Inhalt gar nicht lesen um informiert zu sein, trugen dazu bei, mit wenig Schrift viel transportieren zu wollen. Und selbst wenn man sich bemühte, die ultrakurzen Texte noch zu lesen, so sprühten sie geradezu vor Banalität, Trivialität und Oberflächlichkeit. (Von Grammatik- und Schreibfehlern will ich hier gar nicht erst reden.) Fakten wurden verflacht, Zusammenhänge vereinfacht und Tatsachen verwässert. Die Menge an Geschriebenem stand zunehmend in krassem Gegensatz zu den Inhalten.
Nun, im angebrochenen neuen Jahrzehnt sei es eben wieder die Sprache, die „das Sagen hat“. Tönt logisch. Angeführt werden Argumente wie die weltweite Propagation der Sprachassistenten, die schreibfaul gewordene Gesellschaft, die unzähligen verflogenen Gedanken, bevor man sie zu Papier gebracht respektive in ein Textdokument getippt habe oder die Vorteile von WhatsApp-Sprachmitteilungen, die einfach zu erstellen sind und selbst beim Autofahren oder während des Essens aufgenommen werden können. Es scheint tatsächlich so, als habe das Textschreiben weitgehend ausgedient.
Nach dem Touchscreen legt jetzt die Sprachsteuerung die Hürde, um ins Internet zu gelangen, noch tiefer. Vieles deutet im Moment darauf hin, dass die Sprachsteuerung ähnlich wichtig, wenn nicht sogar noch wichtiger werden wird als der Touchscreen.
In den letzten Jahren habe sich das Verhältnis zur Schriftlichkeit plötzlich deutlich verändert sagt der Linguist Wolfang Steinig. „Die Texte gleichen nun eher spontanen mündlichen Äusserungen. Oft wird geradezu schnoddrig notiert,“ meint er. In der Tat sind die meisten Kurzmitteilungen ja eher mit einem Grunzen zu vergleichen, weit unterhalb der üblichen sprachlichen Komplexität. Da Text eben nunmehr ein Abbild der aktuell herrschenden unschicklichen, ungeschliffenen und unhöflichen Übermittlung darstellt, ist es nur logisch, dass die Gesellschaft wieder zur Sprache zurückkehrt, um sich die Mühen des Textens, also des mechanischen Festhaltens der Nachrichten und Informationen, zu ersparen, denn Ergonomie der Kräfte, um nicht zu sagen Faulheit, ist im Moment hoch im Kurs.
Nun leben wir also im Jahrzehnt der Sprache. Aber Sprache kann ja vielerlei bedeuten. Zum einen das Sprechen, die Rede. Gemeint ist das Sprechen als Anlage, als Möglichkeit des Menschen sich auszudrücken. Wenn es einem die Sprache verschlägt, so kann man nichts zur Sprache bringen und auch nicht mit der Sprache herausrücken. Zum anderen meint Sprache eben auch das System von Zeichen und Regeln, das einer Sprachgemeinschaft als Verständigungsmittel dient. So kann man zum Beispiel in sieben Sprachen schweigen oder aber dieselbe Sprache sprechen.
Und letztendlich ist Sprache auch ein Überbegriff für Stil sowie die Art des Sprechens, der sogenannten Redeweise. Beispiele dafür sind Redewendungen wie „eine flüssige Sprache“ oder „man erkennt ihn an der Sprache“. Neben dem Jägerlatein wäre hier auch die Sprache der Dichtung und diejenige der Werbung zu erwähnen. Die flüssige Sprache ist aber nicht notgedrungen an Wodka, Whisky oder Wein gebunden und gelegentlich ist die Sprache von jemandem ungehobelt, aber sicher nicht diejenige von Schreinern und Zimmerleuten. Sprache ist eben weit mehr als ein beliebiges Transportmittel für Informationen. Sprache ist nie ohne Bedeutung, sonst wäre sie keine. Als Medium enthält die Sprache eine Vielzahl von Botschaften, die über den reinen Informationsgehalt hinausgehen. „Der Ton macht die Musik,“ sagt man, um klarzumachen, dass ein- und derselbe Satz sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann, je nachdem wie er vorgebracht wird.
Auch nach mehr als 40 Ehejahren irritiert mich die indirekte Rede der Frauen nach wie vor. „Man sollte noch den Müllsack in den Container werfen,“ heisst offenbar im Klartext: „Warum hast Du den Müllsack noch nicht ensorgt?“ und die Antwort auf die Frage respektive den Ausruf: „Schau mal diese wunderschöne Salatschüssel,“ vor dem Schaufenster eines Geschäftes geäussert, lautet: „Möchtest Du lieber die Rote oder die Grüne?“ Die Gebärdensprache jedoch ist eben so wenig eine Sprache im eigentlichen Sinne wie die Körpersprache.
Gemeint ist mit der Bezeichnung „das Jahrzehnt der Sprache“ jedoch ganz profan, dass wir eben nach den Zeiten, wo vornehmlich E-Mails, SMS, WhatsApp-Meldungen, Facebook- oder Twittereinträge geschrieben, konkret getippt oder per Touchscreen komponiert wurden, hauptsächlich wieder reden und sei es nur mit den sogenannten Sprachassistenten wie Siri, Alexa oder wie sie alle heissen. Aber mit diesen unterhalten wir uns ja nicht wirklich, sondern wir erteilen ihnen vornehmlich Befehle oder stellen ihnen Fragen. Es scheint überdies eine Tatsache zu sein, dass die Jungen vornehmlich Facebook aber auch andere soziale Medien boykottieren, weil die Alten dort ihr Essen, ihre Katzenfotos, nichtssagende Lebensweisheiten und andere belanglose Dinge posten. Auch deshalb gehen erstere offenbar wieder zur Sprache über. Das Versenden von gesprochenen Monologen wird immer beliebter.
Wie erwähnt sind gesprochene WhatsApp-Mitteilungen sowie Podcasts aktuell im Aufwind. Das Versenden von gesprochenen Monologen wird immer beliebter und Newsportale sowie die Redaktionen von Printmedien stellen immer häufiger auch Podcasts ins Netz.
Das gepflegte Sprechen jedoch ist dekadent geworden. Wenn Mutter und Vater eine Gesprächskultur vermissen lassen, so erstaunt es einen nicht, wenn ihre Nachkommen bloss über ein rudimentäres Vokabular verfügen, eine einfache Mitteilung zusammenstottern müssen und nicht mehr argumentieren können.
Tatsächlich erklären uns Lehrer, was ihnen Sorgen bereite, sei die mangelnde Sprachfähigkeit der Kinder. Als Grund nennen sie, dass in den Familien das Gespräch nicht mehr kultiviert wird und die um sich greifende Unfähigkeit der Jungen sich mitteilen zu können, zuhören zu können, zu argumentieren und andere ausreden zu lassen. In diesem Zusammenhang scheint mir eine kürzlich publizierte Studie aus Frankreich recht aussagekräftig. Gemäss deren Autoren richtet möglicherweise nicht der von den Kindern und Jugendlichen übermässig lange Bildschirmkonsum Schaden an, sondern der durch ihn verursachte Mangel an Gesprächszeit. Dazu passt, dass Kinder, mit denen das Gesehene nicht diskutiert wurde, doppelt so stark betroffen waren.
Die Anzeichen verdichten sich, dass die Sprache nicht mehr dazu da ist, Gedanken zu formulieren oder die Realität abzubilden, mitnichten. Mit Sprache sendet man nurmehr Signale aus. Die Sprache wird mehr und mehr darauf reduziert, Gefühle zu transportieren. Diese haben weitaus mehr Wucht als Argumente. Emotionen sind immer gleich da. Wer fühlt hat immer recht, wer argumentiert ist aus der Zeit gefallen. Panik ersetzt immer häufiger das Argument. Die Massstäbe des Faktenwissens und der vernünftigen Argumentation gelten nicht mehr. An ihre Stelle sind Stimmungen und Gefühle getreten. So lassen sich jede Warnung und jedes Argument mit einem verächtlichen „Haha“ abservieren. Aber auch wer warnt, hat nicht automatisch recht. Kenntnis und Bildung gehen in der öffentlichen Diskussion verloren. Die „terribles simplificatreurs“, bei denen die Erregung das Wissen ersetzt, können ungestraft ihren Eruptionen frönen.
Ein Nachtrag zu den Sprachassistenten: Unlängst liess sich eine Journalistin voller Stolz und nota bene ohne Ironie dahingehend vernehmen, dass ihr Kind als erstes Wort ‚Mama‘, als zweites ‚Papa‘ und bereits als drittes ‚Alexa‘ gesagt habe. Da verschlägt es selbst dem Sprachassistenten die Sprache.
Wenn wir dannzumal auch der Sprache überdrüssig sind, so können wir uns an Victor Hugo halten: „Die Musik drückt aus, was nicht gesagt werden kann und worüber es aber unmöglich ist zu schweigen.“