Nasenstüber

Kolumnen

Die wankenden Klischees

In einem Qualitätsprintmedium habe ich kürzlich gelesen, das Steinzeitklischee sei am wanken. Klischees, so heisst es, entstünden oft aus alten Traditionen heraus. Menschen übernähmen häufig bestimmte Meinungen vielfach unhinterfragt, weshalb sehr schnell Klischees entstehen.
Sehr viele Rollenmuster finden sich beispielsweise über angeblich typisch weibliche und typisch männliche Eigenschaften. Man denke nur an den Bestseller „Warum Frauen nicht einparken und Männer schlecht zuhören können“. Das sind aber beileibe nicht die einzigen oder repräsentativsten Klischees betreffend Mann und Frau. Nachstehend eine Auswahl weiterer Gemeinplätze betreffend weiblichem respektive männlichem Geschlecht, ohne jedoch den Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen. Den Männern wird nachgesagt, sie hätten Angst vor einer festen Bindung, seien gesprächsresistent, würden nie nach dem Weg fragen, würden nicht putzen, würden immer nur an Sex denken, seien unromantisch und würden den Damen immer zuerst auf die Brüste starren, während Frau offenbar zu viel reden, einen schlechten Orientierungssinn haben, nur an Schuhe denken, stets zu zweit auf die Toilette gehen, immer auf Diät sind und immer Recht haben. Meiner Meinung nach wanken diese Allgemeinplätze nicht wirklich, auch wenn Genderbeauftragte und Gleichstellungsbüros uns dies im Brustton der Überzeugung weismachen wollen und mantramässig immer wiederholen.
Zurück zum Steinzeitklischee. Auch hier geht es primär um die Rollenverteilung zwischen Frau und Mann. Dieses Klischee besagt, dass die kräftigen, mutigen Männer dieser Epoche unter grossen Gefahren Grosswild jagten, während die fürsorglichen Frauen das Kinderhüten und den Haushalt besorgten sowie das Sammeln von Beeren, Früchten, Wurzeln und Pilzen übernahmen. Die Vorstellung einer strikten Rollentrennung ist eben das besagte Steinzeitklischee. Aber neueste Forschungen von Prähistorikern zeigen, dass das sogenannt schwache Geschlecht gar nicht so schwach gewesen sein kann, denn jedes Mitglied einer Gruppe musste seinen Beitrag zum Überleben leisten. Gestützt werden diese Thesen durch Untersuchungen an Oberarmknochen, welche zeigten, dass prähistorischen Bäuerinnen um 30 Prozent stärkere Arme hatten als heute lebende Frauen. Ihr Arme waren offenbar sogar kräftiger als die von Mitgliedern des berühmten Cambridge-Ruderclubs. In der frühen Landwirtschaft bestand eine der Hauptaufgaben darin, die Getreidekörner zu Mehl zu verarbeiten. Dies geschah per Hand mittels Reibmühlen. Die Prähistoriker nehmen an, dass das vermutlich die Frauen machten und dass sie wohl etwa fünf Stunden pro Tag damit beschäftigt waren. Das führt sehr wohl zu starken Armen. Damit korrigieren die Forscher ein weiteres Steinzeitklischee, nämlich, dass die Erfindung der Landwirtschaft das Leben leichter gemacht habe. Im Gegenteil: Es bedeutete harte Arbeit und einen deutlichen zeitlichen Mehraufwand.
Frauen besorgten in der Steinzeit wahrscheinlich auch das Essen und das Wasser für die domestizierten Rinder und Schafe, verarbeiteten die Milch, schlachteten Tiere und machten aus Tierhäuten Kleidungsstücke, was ja alles auch nicht gerade ein Zuckerschlecken ist. Das Fazit der Prähistoriker lautet: Die harte Arbeit der Frauen war für Tausende von Jahren ein zentraler Motor der Entwicklung. Damit bringen sie das Steinzeitklischee sehr wohl ins Wanken-
Auch das Klischee der Neandertaler wankt bedenklich. Neuere Untersuchungen – beweisend geradezu aus der Archäogenetik – ergaben, dass diese Menschen in einem Gürtel von der iberischen Halbinsel bis zum Altai-Gebirge lebten. Aber nicht nur der Lebensraum der Neandertaler musste aufgrund neuerer wissenschaftlicher Studien massiv korrigiert werden, auch die Zeit ihrer Verbreitung. Diese dauerte in der Tat um Dekaden länger als bisher angenommen, nämlich von zirka 480'000 Jahren vor heute bis etwa 39'000 Jahre vor heute. Zudem legen Skelettfunde, die ein Zungenbein zutage förderten, es nahe, dass die Neandertaler über eine einfache Sprache verfügten. Auch auf der kulturellen Ebene wurden die Neandertaler über Jahrhundert hinweg verkannt. So wird neuerdings die während der Zeit des Aurignacien existierende Kultur des „Châtelperronien“ den Neandertalern zugeschrieben. Man muss deshalb diese Menschengattung ab sofort in einem ganz anderen Licht sehen, als es uns das Schulwissen vermittelt hat. Es waren nicht einfach tumbe, kulturlose, vor sich hin grunzende und grobschlächtige Höhlenbewohner, die einander an den Haaren herumschleiften.
Die Tatsachen jedoch, dass Männer im Kühlschrank die vor ihrer Nase liegende Butter nicht sehen und Frauen mit Vorliebe Berufe wählen, bei denen es um Hege und Pflege geht, stützen aber die - allerdings unbewiesene, jedoch höchstwahrscheinliche - Vermutung, dass die Gründe dafür darin liegen, dass die Männer im Paläolithikum auf die Jagd gingen und dabei vor allem auf entfernt liegende Ziel, sprich vor allem Tiere, fokussiert waren, während dem die Frauen mit der Betreuung der Kinder, dem Herstellen von Nahrung und Kleidung beschäftigt waren.
Besonders akzentuiert sind die Klischees, welche Nationen respektive Nationalität betreffen oder geographisch gesprochen zum Beispiel Angehörige der Nordländer (Erbsenzähler) gegenüber Südländern (Larifari) charakterisieren. Deutsche gelten als arrogant, verschlossen, militärisch pedantisch, wortkarg und introvertiert. Sie werden von Aussenstehenden als fleissige, unnahbare, ordnungsliebende Klugscheisser und Miesepeter wahrgenommen. Demgegenüber werden Spanier als laut, temperamentvoll, leidenschaftlich und überschwänglich abgestempelt. Sie sind in den Augen der Nordländer faule, jedoch offenherzige, sonnenanbetende, stets wild gestikulierende Chaoten und Spätesser. Wanken auch diese Klischees? Ich glaube nicht wirklich, denn eine wissenschaftliche Untersuchung hat unter anderem ergeben, dass Deutsche besonders korrekte Verkehrsteilnehmer sind, während in Spanien das Verkehrsministerium mit Fernsehwerbespots für den Einsatz des Blinkers werben muss.
Eine Branche, die von Klischees lebt ist der Film. Abstürzende Flugzeuge müssen explodieren, Kinder wissen und können alles, ein Tasse Kaffee macht sofort wieder nüchtern und dem Helden geht niemals die Munition aus. Betreffend Flugzeuge kann man festhalten, dass im Film Flugzeuge stets hinter einem kleinen Wald verschwinden, bevor sie in einem Feuerball explodieren, dass es beim Aufprall grundsätzlich eine riesige Explosion gibt, auch wenn ein Flugzeug abstürzt, weil der Tank komplett leer ist und dass das Kabinenlicht anfängt zu flackern, wenn ein Flugzeug in Turbulenzen gerät. Sind die Filmklischees auch am Wanken? Im Gegenteil, sie scheinen geradezu in Stein gemeisselt zu sein. Die Zuschauer sind zu stark auf diese Klischees fixiert, als dass man sie leichtfertig über den Haufen werfen könnte ohne einen massiven Zuschauerschwund zu riskieren. Diese Klischees halten sich deshalb hartnäckig.
Ein Klischee stimmt zwar häufig nicht mit der Wirklichkeit überein, enthält jedoch meistens das berühmte Körnchen Wahrheit. Gänzlich ausrotten lassen sich Klischees wohl nie und wenn wir ehrlich zu uns sind, müssen wir zugeben, dass wir selber oft in Klischeevorstellungen gefangen sind. Man sollte sie nur nicht allzu ernst nehmen und stattdessen lieber mit einem gewissen Augenzwinkern betrachten.
Das berühmte Zitat, dass „alle Klischees falsch sind“, ist nämlich auch eines.