Nasenstüber

Kolumnen

Journalismus gestern

„Unsere Berichterstattung verschlechterte sich während der Reagan-Jahre weiter, und sie hat sich seither nicht gebessert. Wir sind arrogant geworden,“ schreibt Carl Bernstein, einer der beiden Enthüllungsjournalisten des Watergate-Skandals, in seinem neuesten Buch. An die Stelle von Gründlichkeit und Genauigkeit seien Tempo und Quantität getreten. Aber an dieser medialen Vulgarisierung trage das Publikum eine Mitschuld, denn es verlange ja danach.
Als ich zur Schule ging, war die Rubrik «Unglücksfälle und Verbrechen» ein kleiner und vergleichsweise unbedeutender Abschnitt in der Tagespresse. Aber der Journalismus ist korrupt geworden, hat sich aus seiner ehemaligen, wichtigen Verantwortung gegenüber den Lesern gestohlen und einen unstillbaren Hunger nach Konflikten, Emotionen und Skandalen entwickelt. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es sich offensichtlich nur noch lohnt über Dramen, Katastrophen, Unglücke und Apokalyptisches zu berichten. Dies in der vermeintlichen Meinung, dass sonst die Leser zur Konkurrenz abwandern (wo sie eh nur denselben Stuss lesen).
Für die Tatsache, dass Leute vermehrt negative anstatt positive Nachrichten lesen findet Medienpsychologe Daniel Süss mehrere Gründe: «Auf der einen Seite ist das bedingt durch den Nachrichtenwert, also dass mehr über Risiken, Gefahren und negative Ereignisse berichtet wird als über positive.» Schlechte News brächten in der Regel zudem eine stärkere Emotionalisierung mit sich und liessen sich skandalisieren. sagt der Professor von der Universität Zürich. «Wenn sich Menschen, wie etwa in einer Pandemie, diffus bedroht fühlen und nicht richtig abschätzen können, wie stark sie persönlich gefährdet sind, hat das eine zusätzliche Sogwirkung, um sich mit negativen Nachrichten zu beschäftigen“. Auf der anderen Seite ist das Phänomen „Doomscrolling“ laut dem Medienpsychologen evolutionär bedingt. Es handelt sich dabei um eine Wortbildung aus den englischen Begriffen „doom“ (dt. Verderben) und dem eingedeutschten „scrollen“ (etwa den Bildschirminhalt verschieben). Wörtlich lässt sich der Begriff nur schwer ins Deutsche übersetzen, am ehesten würde es wohl „verdammnisblättern“ treffen. Sinngemäss beschreibt Doomscrolling (auch Doomsurfing genannt) aber eher das schier endlose Konsumieren von schlechten Nachrichten auf verschiedenen Medienkanälen. «Wir Menschen reagieren stark auf Warnungen, negative Ereignisse und Risiken, die uns betreffen. Dies hilft uns, im Ernstfall Massnahmen zu ergreifen und uns in Sicherheit zu bringen,» so Süss weiter in seiner Ausführung. Gleichzeitig habe dies aber auch den Effekt, dass Menschen, die ängstlich oder depressiv seien, in einen Teufelskreis geraten könnten, indem sie sich immer stärker auf das Negative fokussierten und ihre Ängste verstärkten.
Journalistisch zählen heute leider nur noch die Scoops und die scheint man nur mit Desaster, Unheil, Tragik und Schreckensnachrichten erzielen zu können. Wir sind in die Katastrophe verliebt – keinesfalls in die vor Freuden und Fortschritten strahlende Zukunft. Medien lechzen wie erwähnt geradezu nach Konflikten und Skandalen um beim Publikum Anklang zu finden. Gewiefte Propagandisten wissen diese Medienlogik aufs Beste zu bedienen. Im Kontext mit Corona ist diese Dynamik jedoch erst der Beginn eines weitaus bedenklicheren Problems: Weil Medien die Botschaften extremistischer Corona-Massnahmengegner wiedergeben, übergeben sie ihnen damit die Deutungshoheit im Corona-Diskurs. Sie treiben dadurch die Radikalisierung stärker an, als es die extremistischen Massnahmengegner aus eigener Kraft jemals könnten. Zugegeben, es kann gelegentlich auch ein echtes Dilemma vorliegen, wie Adrian Lobe in der «Medienwoche» konstatiert: „Einerseits laufen die Medien in Frankreich zur Zeit Gefahr, sich zum Sprachrohr eines Rassisten und Rechtsextremisten zu machen, andererseits ist Zemmour zu wichtig, als dass man ihn ignorieren könnte“. Aber gerade im Zusammenhang mit der Berichterstattung zur Corona-Pandemie haben die Journalisten eine sehr unrühmliche Rolle gespielt. Das Hüst und Hott betreffend der Epidemiologie, der nötigen oder angeordneten Massnahmen und Impfstrategie haben die Leser stark verunsichert und dies just in einem Moment, wo geradlinige Nachrichten mehr denn nötig wären, wobei man den Journalisten in diesem Zusammenhang zugute halten muss, dass das Auf und Ab der Wissenschatftler resp. der Experten einer kohärenten, unumwundenen Berichterstattung auch nicht gerade förderlich war. Immerhin hat sich die Redaktion der dänischen Zeitung « Ekstra Bladet » zu Beginn des Jahres bei ihren Lesern für ihr versagen im Journalismus entschuldigt. « Wir haben versagt » schrieb sie. Die Zeitung sei während der Corona-Krise viel zu unkritisch mit den offiziellen Informationen der Regierung umgegangen.
Warum fällt es Journalisten nur so schwer, sich für eine Fehlleistung zu entschuldigen? Zeitungen und Verlagshäuser entschuldigen sich eben nur dann, wenn ihnen Klagen drohen, schreibt Kurt Zimmermann in der „Weltwoche“. Ich zitiere den Journalisten und Verleger Markus Somm: „Journalisten bezahlen selten dafür, wenn sie sich vergaloppieren, wogegen jeder andere: der Politiker, der Unternehmer, der Arbeitnehmer, der die Wirklichkeit verkennt, irgendwann dafür bestraft wird. Er wird abgewählt, er geht bankrott, er wird entlassen. Die Wirklichkeit schlägt ihm auf den Kopf, wogegen sie uns Journalisten verschont – gerade uns, die wir ihr immer wieder das Schlimmste zutrauen“.
Bei #MeToo-Themen liegen Aktivismus und Journalismus nahe beieinander und der Moralismus hat überall die Oberhand gewonnen. Analysen und Urteile werden durch Voreingenommenheit ersetzt. Die Meinung zählt oft deutlich mehr als Fakten. Auch wenn eine Behauptung hundert Mal wiederholt wird, so erhält sie immer noch nicht den Status von Wahrheit. In Zeiten von Fake News und Pandemie wäre ein unabhängiger Journalismus absolut zentral.
Nach der Berichterstattungsform lässt sich Journalismus in mehrere Kategorien untergliedern, so zum Beispiel der Enthüllungsjournalismus, der klassische investigative sozusagen detektivische Journalismus oder der Boulevardjournalismus. Es kann aber auch eine Unterteilung nach Spezialisierung vorgenommen werden. Als Vertreter sei hier lediglich der Sportjournalismus genannt.
Nur am Rande, jedoch der Vollständigkeit halber, sei hier auch noch der Videojournalismus erwähnt. Letzterer hatte sich zwischenzeitlich insbesondere aus Kostengründen etabliert, da hier Kameramann ,Tonmeister, Regisseur und Beleuchter in Personalunion fungieren und das Schneiden des Films wurde meist auch noch von derselben Person vorgenommen. Allerdings hat die Qualität der Beiträge verständlicherweise entsprechend gelitten. Darüber hinaus lässt sich der Journalismus durch den journalistischen Grundsatz der Trennung von Meinung und Nachricht, dem sogenannten Trennungsprinzip, definieren. So unterscheidet man zwischen tatsachenorientierten Formen - Meldung, Nachricht, Bericht, Reportage, Feature und Interview – und meinungsorientierten Formen, deren wichtigste Gattungen der Kommentar, die Glosse, die Kolumne und das Essay sind. Neu bin ich in den letzten Tagen dem Begriff „kritischer Journalismus“ begegnet. Aber dessen Bedeutung hat sich mir bis anhin nicht offenbart. (Über Roboterjournalismus lesen Sie in der nächsten Kolumne.) Hingegen kann ich Ihnen ganz genau sagen, was Mainstream-Journalismus respektive Mainstream-Medien bedeutet: Darunter versteht man jene Medien, die bestimmen worüber die Gesellschaft redet. Mainstream-Medien werden als Organisationen definiert, die gross und bedeutend genug sind, um die Agenda der politischen Debatte massgeblich zu beeinflussen.
Eine ebenfalls neuere Form des Journalismus – so man denn diese Exzerpte überhaupt noch unter Journalismus einreihen kann – ist die «episodische Berichterstattung». Dabei handelt es sich um die euphemistische Bezeichnung für «Online-Ticker».
Den Teilnehmern eines Fernkurses für Journalismus wird dort empfohlen, sich im Regelfall nicht auf eine bestimmte Art des Journalismus festzulegen, denn ein erfolgreicher Journalist sei in der Lage, sich in alle Formen des Journalismus hineinzuversetzen und je nach Bedarf anzuwenden. Alles ein bisschen, aber nichts richtig gut, ist man geneigt zu kommentieren. In der Tat jedoch sind alle Arten des Journalismus in den verschiedensten Medien anzutreffen und erheben den Anspruch auf Qualitätsjournalismus. Nun, weil offenbar die Mehrzahl der Leser vor allem Unterhaltung, Meldungen über Unfälle und Katastrophen sowie „Thrill“ einer seriösen umfangreichen und detaillierten Information vorziehen, wundert es natürlich nicht, dass der Boulevardjournalismus in den letzten Jahren derart überhandgenommen hat. Intrigen, Skandale Aufruhr, Affären ziehen mehr Leser in ihren Bann, als es die Entdeckung der Relativitätstheorie oder die Enträtselung der ägyptischen Hieroglyphen je täten.
Ein wesentlicher Teil journalistischer Arbeit besteht darin, auszuwählen, über welche Aspekte der Welt berichtet werden soll und guter Journalismus zeichnet sich dadurch aus, dass Kontexte, Zusammenhänge, Probleme aufgezeigt werden. Wenn Inhalte einfach kolportiert werden, ist das nicht Journalismus, sondern PR. Aber wie immer und überall gibt es auch hier Ausnahmen. Genannt sei als Beispiel Fred Hiatt, der kürzlich verstorbene Chefkommentator der „Washington Post“. Dieser suchte das Rampenlicht nicht. Anders als viele seiner Journalistenkollegen mied er lukrative Fernsehauftritte, weil er überzeugt war, der Bildschirm eigne sich als Ort nicht, um nuanciert argumentieren zu können. Auch wollte er sich nicht verzetteln, sondern sich auf seine Aufgabe als Chef der Editorial Page der «Washington Post» konzentrieren, jener Seite der Zeitung, auf der getrennt und unabhängig vom Nachrichtenteil Leitartikel und Kommentare erscheinen. Nicht von ungefähr ist die „Washington Post“ ein Leuchtturm punkto Bürgerfreiheiten, Bürgerrechte und Meinungsfreiheit und ein „bissiger Wachhund“ der kontinuierlich die Macht der Regierung hinterfragt um sicherzustellen, dass weder Politiker noch Beamte in Unsachlichkeit, Willkür oder gar Rechtswidrigkeit abdriften. Die vierte Macht im Staat. In seinen besten Momenten ist Journalismus immer noch ein Pfeiler der Aufklärung, Garant für unser demokratisches System.
Zuletzt noch dies: Wenn auf einer Redaktion eine Handvoll Journalisten abgebaut wird, lamentiert dieses Gremium lauthals über einen dadurch bedingten gewaltigen Qualitätsverlust. Seltsamerweise ist jedoch niemandem ein gewaltiger Qualitätsgewinn aufgefallen, als in den Jahren zuvor manche Redaktionen um Dutzende von Journalisten aufgestockt wurde.