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Kolumnen

Gedankenspaziergänge

Spazieren ist gesund. Regelmässiges Gehen beugt nicht nur körperlichen Beschwerden vor, es ist auch eine Wohltat für den Geist, wie es bereits Hölderlin formuliert hatte. Durch ungetrübtes Spazieren kommt man in einen fast meditativen Zustand. Das passiert allerdings nur, wenn man alleine geht und keine Musik die Ohren beschallt. Die Gedanken kommen und gehen, alles ist im Fluss, genauso wie gleichmässige Schritte. Ohne mich allzu wissenschaftlich profilieren zu wollen, möchte ich an dieser Stelle doch gerne festhalten, dass fundierte Studien zeigen, dass Spazieren gesund ist. So zeigte etwa eine Studie der University of Pittsburgh, dass schon zehn Kilometer langsames Gehen pro Woche dazu beitragen, das Gehirnvolumen und damit die Erinnerungsfähigkeit besser zu erhalten und so Demenz und Alzheimer zu bremsen und laut einer Studie der University of California in Los Angeles verringern schon zehn Minuten tägliches Spazieren das Glaukom-Risiko (Risiko an grünem Star zu erkranken) um 25 Prozent.
„Woher kommen eigentlich die Gedanken?“ fragte mich einst ein Kind.
„Ich weiss es nicht,“ sagte ich betreten, weil mir keine bessere Antwort einfiel. Zu jenem Zeitpunkt gab es das Internet noch nicht, geschweige denn Wikipedia. Man hätte schon ein Seminar in Neuropsychologie oder „cognitive science“ besuchen müssen, um dem Mädchen eine halbwegs vernünftige Antwort geben zu können. Gedanken kommen und Gedanken gehen, doch wir sind uns nicht sicher, woher Gedanken kommen und wohin sie gehen. Gedanken sind fast durchgehend im Wachzustand präsent und die Momente, in denen der Mensch frei von Gedanken ist, sind selten. Ebenso ist sich der Mensch nicht sicher, was sein nächster Gedanke oder was sein erster Gedanke sein wird, wenn er aus dem Schlaf erwacht. Um zu verstehen wie ein Gedanke entsteht, müssen wir uns klarmachen, dass das Gehirn nicht für sich allein existiert, sondern immer nur als Bestandteil eines Organismus, der mit seiner Umwelt interagiert. Dauernd muss dieser dafür sorgen, den Kontakt zum inneren Milieu und zur äusseren Realität nicht zu verlieren. Alles, was im Gehirn gedanklichen Gehalt hat, bezieht es letztlich aus vergangenen oder aktuellen Interaktionen mit der Umwelt, wozu auch die evolutionäre Vergangenheit gehört. Vereinfacht gesagt, entsteht ein Gedanke also aus der aktiven Interaktion des Gehirns mit seinem Körper und der Umwelt. Dieser letzte Satz wäre eine mindestens akzeptable Antwort an das Mädchen gewesen.
Es ist schwierig Gedanken festzuhalten. Leider verflüchtigen sich Gedanken viel zu oft und viel zu schnell. Das Gedankenkarussel dreht sich stets munter weiter. Aber immerhin kann man sich auch Gedanken machen und andererseits kann man selber einen Gedanken verwerfen. Um Notizpapier zu sparen und um das Ziel des papierlosen Büros endlich in die Realität zu überführen, wurde die gedankliche Notiz erfunden. Auch ich war natürlich von dieser umwerfenden geistigen Technik begeistert. Was hatte ich mir nicht alles als mentale Vermerke memorieren wollen: Schrauben 5x40 kaufen, Johann mitteilen, dass ich am Donnerstag nicht zum Tennis kommen kann, den Newsletter von Lacoste abbestellen usw. Aber jegliche gedankliche Eintragung überdauerte ihr «Verfalldatum» um etliche Tage. Als hätte ich mir je eine gedankliche Notiz merken können. Die Masse von Gedanken ist so gigantisch, dass man darin versinken kann. Gedankenversunken träumt so manch einer in den Tag hinein bis ein äusserer Reiz ihn wieder in die Wirklichkeit zurückholt.
Gedanken gibt es in Hülle und Fülle, ja sogar im Übermass, sodass man ruhig ab und zu einen Gedanken an jemanden oder auf etwas verschwenden darf. Im Zusammenhang mit Gedanken darf man sich nämlich geradezu verschwenderisch benehmen. Das Gedankengut ist in der Tat so immens, dass es nicht ins Gewicht fällt, wenn man einen Gedanken an jemanden oder etwas verliert. Gedankenverlorenheit nennt man das Versunkensein, Vertieftsein in Gedanken.
Aber man kann mit Gedanken auch wesentlich dynamischer umgehen. Ich meine zum Beispiel springen. Die völlig unvermittelte Aufnahme eines neuen Gedankens, der nicht in direktem Zusammenhang mit dem gerade ausgeführten Gedankengang steht, nennt man Gedankensprung. Einiger Leute Lieblingssportart ist offensichtlich diese Art von Sprüngen. In den meisten Fällen können Aussenstehende einen Gedankensprung nicht nachvollziehen, insbesondere wenn es sich um kühne, unmotivierte Gedankensprünge handelt. Bei einem Exzess an Gedankensprüngen spricht man von Gedankenkapriolen.
Bei der Beschäftigung mit dem Thema „auf andere Gedanken kommen“ bin ich wieder einmal mehr über zahlreiche Ratgeber gestolpert, wie zum Beispiel: „Diese 4 Schritte lösen negative Gedanken in Luft auf“ oder „Negative Gedanken loswerden in fünf Schritten“. Drei Tipps, die in diesen Ratgebern erwähnt werden, habe ich mir zu Herzen genommen, weil sie mir besonders konstruktiv erschienen. Sie wüssten gerne welche das sind? Also, erstens: Es gibt wohl keine schönere Art, den Geist mit ablenkenden Gedanken zu beflügeln, als in die Welt eines guten Buches einzutauchen, zweitens: Sich auf etwas Neues zu fokussieren, das ganz abseits der Alltagsprobleme liegt und drittens: Anstatt sich davon fertig machen zu lassen, was noch alles zu erledigen ist, jeden Abend eine mentale – oder tatsächliche – Liste der Dinge erstellen, die man an diesem Tag bereits geschafft hat. Aber Sie werden diese Weisheiten ja schon längstens befolgen. Auch jedwede Distanz lässt sich null Komma plötzlich in Gedanken überwinden. Wenn Sie es allzu offensichtlich machen, wird man von Ihnen sagen: „Er respektive sie ist in Gedanken woanders“.
Man kann auch mit Gedanken jonglieren. Dabei muss man jedoch peinlichst darauf achten, dass keine zu Boden fallen.
Gedanken ermöglichen aber auch bisweilen eine Rückkehr. Leider kehren unsere Gedanken vorzugsweise immer wieder zu den Dingen zurück, mit denen wir nicht zufrieden sind. Vorsicht: Grübler leben gefährlich! Wenn die Gedanken stets um das immer gleiche Thema, oft um ein Problem, kreisen, so kommen wir rasch ins Grübeln. Unser Geist kommt einfach nicht zur Ruhe, die Sorgen wachsen und eine rechte Lösung will sich partout nicht finden lassen. Kreisen sinnlose Gedanken wie ein Karussell im Kopf, schlägt das aufs Gemüt. Grübeln bedeutet für den Körper Stress und kann als erstes Symptom auf eine beginnende Depression hinweisen. Also, nicht in die Grübelfalle tappen!


'Verarsch mich nicht – Gedankenlesen in der Beziehung' lautet der Titel eines Buches von Gabriel Palacios. Darin erklärt der Autor wie man aus Mimik, Gestik und Körpersprache anderer Schlüsse auf deren Gedanken zieht. Die Rede ist also vom Gedankenlesen. Das Ziel des Gedankenlesens ist es, an eine Information zu gelangen, die vom Gegenüber gedacht, aber nicht in Worten ausgesprochen wurde. „Kein Mensch kann sie wissen“, heisst es im Volkslied über die Gedanken. Eine frohe Gewissheit, verspricht sie doch einen letzten Rest Freiheit und Intimität, der uns nicht zu nehmen ist. Mit den Mitteln der modernen Hirnforschung jedoch rückt ernst zu nehmendes Gedankenlesen jetzt in den Bereich des Möglichen. Allerdings im Moment glücklicherweise noch nur über den Umweg eines Computertomografen. Mittels funktioneller Magnetresonanztomografie (fMRT) können die Hirnforscher neuronale Aktivität sichtbar machen. Auf den fMRT-Bildern werden charakteristische Muster erkennbar, an denen sich Gedanken voneinander unterscheiden lassen. Jeder Gedanke hinterlässt auf diese Weise seine eigene neuronale Signatur, die so unverwechselbar ist wie ein Fingerabdruck. Wer die Muster zu lesen versteht, kann aus ihnen ableiten, was eine Person gerade denkt, kann Gedanken lesen.
Man kann also mit Gedanken vielerlei tun, allerhand anstellen. Zum Beispiel kann man auch mit ihnen spielen, ein Gedankenspiel anstellen. Unter einem Gedankenspiel versteht man die rein gedankliche Überlegung dazu, wie etwas sein könnte oder sollte. Die kontrakfaktische Geschichte wäre da ein ideales Beispiel dafür. Bei dieser virtuellen Geschichte, auch Uchronie genannt, wird auf der Grundlage der durch Quellen gesicherten Faktenlage von Geschichtswissenschaftlern spekuliert, was geschehen wäre, wenn bestimmte historische Tatsachen nicht oder anders eingetroffen wären. Als Gedankenspielerei gilt das unverbindliches Durchdenken möglicher Sachverhalte, Handlungen und ihrer Folgen, das gedankliches Herstellen von Zusammenhängen. Man kann jemanden zu Gedankenspielen verführen oder sich selbst auf ein Gedankenspiel einlassen. Oder man kann mit Gedanken experimentieren. Als Gedankenexperiment bezeichnet man ein nur in Gedanken durchgeführtes (und durchführbares) Experiment, das etwas zeigen oder beweisen soll. Diese Art von Experimente waren vor allem in der Physik beliebt und halfen physikalische Phänomene zu verstehen oder weiterzuentwickeln. Die Taxonomie der Gedankenexperimente unterscheidet zwischen destruktiven und konstruktiven Gedankenexperimenten. Letztere wiederum werden in vermittelnde, vermutende und direkte unterteilt. Als dritte Kategorie werden Platonische Gedankenexperimente ausgeschieden. Gedankenexperimente, die eine etablierte Theorie widerlegen sollen, werden destruktiv genannt. Als Beispiel für ein konstruktives Gedankenexperiment kann man das von Lord Kel¬vin „Maxwellscher Dämon“ genannte Gedankenexperiment, das zur Klärung der Frage, wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik aufgefasst werden soll, herbeiziehen. Anders als die vermittelnden Gedankenexperimente stützen vermutende Gedankenexpe¬rimente keine vorhandene Theorie, sondern zeigen ein Phänomen auf. Aus diesem Phäno¬men wird dann eine Hypothese abgeleitet.
Des Weiteren kann man Gedanken auch austauschen. Im Grunde genommen/Bei Lichter besehen, lade ich Sie mit dieser Lektüre zu einem Gedankenaustausch über Gedanken ein. Gedanken eignen sich auch zum Entschleunigen. Wie gesagt, ist es schwierig einen Gedanken festzuhalten. Aber was Sie tun können, ist einem Gedanken nachhängen. Aber selbst wenn Sie dies sehr intensiv tun, so wird sich der Gedanke eher früher als später wieder davonmachen.
Das Schönste jedoch, was man mit Gedanken tun kann, ist mit ihnen spazieren zu gehen, bis sie sich wieder verflüchtigen. Der Volksmund sagt dazu „die Gedanken schweifen lassen.“ Die Experten sagen uns, dass in unserem Gehirn vier Areale aktiviert werden, die weit auseinanderliegen und sonst nur selten zusammenarbeiten, wenn wir unsere Gedanken schweifen lassen. Durch bewusste Auszeiten würden ideale Bedingungen für Kreativität geschaffen. Zudem dienten diese Gedankenspaziergänge dem inneren Kompass. Wer nichts tue, sei unterfordert und orientiere sich neu. Müssiggang, ja sogar Langeweile, sei auch wichtig für die Erholungsphasen des Gehirns.
Ich wiederhole gerne ein Zitat von Christian Morgenstern: „Gedanken wollen oft - wie Kinder und Hunde -, dass man mit ihnen im Freien spazieren geht.“