Nasenstüber

Kolumnen

Stoffe

Ein bisschen erstaunt war ich schon als ich die grosse Palette an angebotenen Stoffen in dem etwas kühl wirkenden Verkaufsladen erblickte. ‚A. Huber – Stoffe aller Art’ stand auf dem kleinen Messingschild neben der Eingangstüre. Das Navigationsgerät meines Autos hatte mich direkt vor den Laden gebracht, sonst hätte ich ihn wohl kaum gefunden. Gebannt schaute ich mich in dem grossen, schlecht beleuchteten Lokal um. Lauter Stoffe: Baustoffe, Geruchstoffe, chemische Stoffe wie Wasserstoff und Sauerstoff, Verbandsstoff, Riechstoffe, Betriebsstoff, was das Herz begehrt. „Das ist ja unglaublich welch reichhaltiges Sortiment an Stoffen Sie hier vorrätig haben.“ sagte ich in einem Tonfall, der sowohl Überraschung wie auch Erstaunen ausdrücken sollte.
„Ja man versucht eben der Kundschaft in jeder Weise gerecht zu werden. An was für einen Stoff haben Sie denn gedacht?“ fragte mich der leicht untersetzte Verkäufer. Er steckte in einer mausgrauen Berufsschürze und stützte sich mit beiden Armen auf den Tresen, auf welchem eine nostalgische, grosse Registrierkasse hockte. „Gesprächsstoff,“ sagte ich und war darauf gefasst, dass er mir gleich mitteilen würde, dass ich mit solch abstrusen Wünschen nicht in seinem Laden aufkreuzen solle. Aber ich hatte mich geirrt. „Da sind Sie seit langem wieder der Erste, der diese Art Stoff verlangt,“ antwortete er in einem fast verschwörerischen Tonfall und musterte mich von oben bis unten. „Diese Art Stoff muss ich Ihnen im Soussol zeigen, denn sie wird ja heutzutage kaum je verlangt.“ Schweigsam stieg ich hinter ihm die ausgetretene Holztreppe ins Untergeschoss hinunter. Dort angekommen zog er an einer Kordel, die auch schon bessere Zieten gesehen hatte, worauf sich ein dämmriges Licht in einem kellerartigen Raum verbreitete. Diese Lokalität war aber zu meiner totalen Überraschung geschmacks- und stilvoll eingerichtet und lud geradezu zum Verweilen ein. Es war mir nicht ganz klar ob der Raum noch als sehr behaglich oder doch schon leicht muffig zu bezeichnen war. Aber es schien tatsächlich so, dass seit langem niemand mehr hier unten gewesen war. „Hier horte ich einen beachtlichen Fundus von Gesprächsstoff,“ meinte der Verkäufer und wies mir einen Platz auf einem Ohrensessel zu. Er selber setzte sich auf einen mit Velours überzogenen Puff. „Schauen Sie, auch beim Gesprächsstoff ist es wie bei einem guten Tuch,“ begann er unsere Plauderei, „Sie wollen doch sicher auch Qualitätsware und nicht irgendein Plagiat, Plattitüden oder Gemeinplätze. Die Leute reden ja nur noch über das Wetter, die Börse, Sport, Fernsehprogramme, Frauen, Autos und solchen Mist. Solche Dutzendware habe ich natürlich nicht. Bei mir bekommen Sie nur qualitativ hochwertigen Gesprächsstoff von besonderer Güteklasse.“ Wie um das Gesagte zu unterstreichen rieb er fiktiven Stoff mit geübter Bewegung zwischen den Fingern. Was einen guten Gesprächsstoff ausmacht sind eben vor allem Qualität, Originalität, Inspiration und Niveau. Wenn ein Gesprächsstoff leicht reisst oder durchscheuert dann bleiben nur noch Gesprächsfetzen. Diese versteht dann niemand mehr. Doch jemand hat sogar aus diesen Gesprächsfetzen noch ein Geschäft gemacht. Wir nennen es ‚Twitter’“.
Es entspann sich in der Folge ein interessantes Gespräch über Stoffe mit dem Hauptthema Gesprächsstoff. „Wussten Sie,“ sagte er und beugte sich verschwörerisch gegen mich, „dass Dürrenmatt an seinem „Stoffe“-Projekt zwanzig Jahre bis ans Lebensende gearbeitet und dabei ein Konvolut von 30’000 Seiten zurückgelassen hat?. Die „Stoffe“ gelten als Schlüsselwerk des späten Dürrenmatt. Durch die Erfolge als Schriftsteller sowie als gesellschaftskritischer Autor war Dürrenmatt zu einem der wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen geworden, doch als Dramatiker geriet er bereits in den späten Sechzigerjahren zusehends aus der Mode. Nachdem er 1969 seinen ersten Herzinfarkt erlitten hatte, nahm er in der Rekonvaleszenz den Versuch auf, sich selber zu ergründen.“ Es folgte eine leicht lähmende Pause. Dann musterte mich Herr Huber eingehend, bevor er zufügte: „Im Urmanuskript dieses monumentalen Werkes schrieb Dürrenmatt: ‚Der Tod rückt näher, das Leben verflüchtigt sich. Indem es sich verflüchtigt, will man es gestalten; indem man es gestalten will, verfälscht man es: So kommen die falschen Bilanzen zustande, die wir Lebensbeschreibungen nennen.‘“ Nachdenklich sassen wir danach noch eine Weile auf unseren Stühlen. Nachdem ich mich verabschiedet hatte meinte er noch: „Ich habe eigentlich nur einen Stoff nicht zum Verkauf. Das ist der Stoff aus dem Träume sind.“