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Kolumnen

Häppchenkultur oder Wie Twitter (resp. X)zu Literatur wurde

Die Hochkulturen sind Vergangenheit. Wir leben aktuell in einer Welt verschiedenster Kulturen. Da gibt es unter anderem die Sklavenhalterkultur, die Pop-Kultur, die Freikörperkultur oder die Weltveränderungskultur, die wir alle schon lange kennen.

Neueren Datums sind die Trash-Kultur, die Verschweigenskultur, die Betroffenheitskultur, die Kommentarkultur und natürlich ganz aktuell die Willkommenskultur.

Das Drehbuch der Kultur hat unterschiedlichste Autoren, die sich alle mit etwas besonders Extravagantem überbieten wollen.

Wenn Sie nun meinen, ich schreibe über die verschiedensten zeitgenössischen Kulturtypen, so liegen Sie völlig falsch. Was ich im Sinn habe, ist, mich mit Ihnen über die aktuell grassierende Unsitte der Häppchen - eben die Häppchenkultur – zu unterhalten.

Bücher über 200 Seiten waren früher für mich ein Gräuel. So viele Seiten, insbesondere noch ganz klein und eng bedruckt, waren klare Kriterien das Buch gar nicht erst in Angriff zu nehmen sondern sofort ungelesen wieder ins Büchergestell zurückzustellen.

Auch heute noch lege ich ein Buch mit 468 Seiten zur Seite. Aber erst etwa bei Seite 420. Ich habe nämlich Angst davor die Geschichte zu Ende gelesen zu haben und danach in ein literarisches Vakuum zu stürzen.

Ein echter Paradigmenwechsel weg von den Häppchen.
Die Häppchenkultur ist die wahrscheinlich zur Zeit am meisten beachtete und verfolgte (oder heisst es nun gefolgte) Kultur. Alles und jedes wird neuerdings in Häppchen angeboten nicht nur in der Gastoronomie, nein gerade auch oder insbesondere in der Kommunikation.

In vergangenen Zeiten bedeutete das Zeitungslesen einen Morgen füllenden Zeitvertrieb für Rentner oder eine zeitraubende Pflicht intensiven Studiums für Manager.

Heute muss der Zeitungsinhalt innerhalb von 20 Minuten gelesen werden können, weil die Aufmerksamkeitsphase – der sogenannte „attention span“ der Anglosachsen – nach eben dieser Zeit abgelaufen ist. Nach dieser Zeitperiode muss man sich zwingend einer anderen Tätigkeit zuwenden.

Im Folgenden ist die Rede von der Generation Twitter respektive von der Twitter-Kultur.

Twitter hat die Häppchenkultur ad absurdum geführt.

Es ist ein Zeichen der Zeit, dass man jetzt nur noch 140 Zeichen braucht um mitzuteilen, was einen bewegt.

Aber aufgepasst: Es ist auch möglich mit nur 140 Zeichen ein Zeichen zu setzen. Dies jedoch ist ein äusserst seltenes Phänomen, das nur wenige beherrschen.

Manch einer, der etwas Gescheites zu sagen hat, kann dies nur in ausufernden Abhandlungen kundtun.

Glücklicherweise finden sich jedoch immer wieder Leute, die ihr Wissen respektive ihre Weisheit oder Überlegungen auch in knappen Worten kommunizieren können.

Damit meine ich nicht bloss Aphoristiker sondern bewusst auch Wissenschaftler, Philosophen und sogar Politiker.

Apropos Aphorismen: Es gibt bereits Stimmen, die Twitter-Einträge Aphorismen gleichsetzen. Das ist jedoch in etwa so, wie wenn man der Heissassa-Gruppe ‚Schürzenjäger‘ den Nobelpreis für Literatur für ihre Leidtexte verliehe.
denn des Aphorismus häufigstes Bauprinzip ist die Antithese - zum Beispiel „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.“ (Hippokrates) -, die oft auch noch polemisch zugespitzt wird.

Der ZDF-Kasper Jan Böhmermann wiederum hat seine gesammelten Twitter-Ergüsse zwischen zwei (zugegeben wunderschön gebundene) Buchdeckel mit dem Titel „Gefolgt von niemandem, dem du folgst: Twitter-Tagebuch 2009-2020“ geklemmt. Ich stelle mir das als eine Art Twitter-Gewitter vor. Aber so etwas nennt sich nun ein Buch.

Aber nur weil ein Gaukler ein paar unzusammenhängende Twitter-Texte als Buch herausgibt, erhöht es das Produkt noch nicht in den Olymp der Literatur. Wenn schon, dann wird es eher in der Versenkung der Krypta der Trivialliteratur verschwinden.

In neueren Kriminalromanen wird die Häppchenkultur geradezu übersteigert, indem in diesen Texten nach spätestens zwei Sätzen stets ein neuer Absatz folgt, selbst wenn sich der Text respektive die Geschichte ohne Zäsur weiterzieht.

Ich frage mich echt warum? Entweder, dass die Leserin, der Leser möglichst schnell mehrere Seiten abhaken kann oder die Verlage möchten gerne Romane mit möglichst vielen Seiten anbieten damit sich der Preis für das Buch auch rechtfertigt.

Oder es ist tatsächlich so, dass - dies ist mein grösster Verdacht – den Lesern keine längeren, zusammenhängenden Textpassagen mehr zugemutet werden können. Sie kauften das Buch ansonsten nicht.

Zu den neuen Formen der Häppchenkultur gehört auch die «episodische Berichterstattung ». So lautet nämlich die euphemistische Bezeichnung der Journalisten für
« Online-Ticker ». Hier werden uns gezielt Häppchen über irgendein meist unbedeutendes Ereignis aufgetischt und zwar so, dass die Leser alle gespannt sind, was sich als nächstes tut.

Nun, ich hoffe Sie haben meine Häppchen gut verdaut, gelobe aber hiermit feierlich in Zukunft nur noch zusammenhängende Texte im Sinne eines ordentlichen Happens zu schreiben.

Denn Sie sind ja eine Leserin, ein Leser und nicht eine Informationsakzeptierungsmaschine.

Wäre ja noch schöner, wenn ich Ihnen in Zukunft - um die Häppchenkultur ins Abstruse zu treiben - die Wörter meiner Kolumnen einzeln zusände.

Schliesslich möchte ich Ihnen ja keinen Kulturschock zumuten.