Nasenstüber

Kolumnen

Das Plattitüdenschwein

„Gewiss, es waren sorgsam gewählte Worte, wie immer zu guten Formulierungen zusammengesetzt, und doch klangen sie im Mund von Emmanuel Macron zumindest diesmal, in diesem aufgebauschten Rahmen der präsidialen Ansprache hinter seinem Élyséebüro mit dem plätschernden Brunnen im Garten des Präsidentenpalastes im Hintergrund, so hohl und nichtssagend wie wohl noch nie, seit der im Grunde begnadete Rhetoriker Macron im Amt ist,“ war in einer Analyse der Rede zur Lage der Nation des französischen Staatspräsidenten im Juni zu lesen. Die Rede war tatsächlich eine kolossale Aneinanderreihung von Plattitüden. Doch Präsident Macron ist beileibe nicht hat der Einzige, der sich nicht getraut klare, unmissverständliche und unzweideutige Aussagen zu machen. Sowas braucht Zivilcourage und die kann man ja von einem Politiker, der schliesslich wiedergewählt werden will, partout nicht verlangen. Wenn Macron für jeden Gemeinplatz, den er in seiner Rede benutzt hatte, ein 2-Euro-Stück in ein Plattitüdenschwein hätte werfen müssen, wäre selbst ein riesengrosses Sparschwein prallvoll geworden. (Dabei ist sparen ein Wort, das die Franzosen offenbar selbst in der französischen Übersetzung nicht verstehen.) In der Hochpreisinsel Schweiz müsste man logischer- und konsequenterweise einen „Fünfliber“ (5-Franken-Stück) in das Phrasenschwein werfen.
Ich möchte mich ja hier nicht als Spezialist für Phrasen, Worthülsen, Gemeinplätze und Plattitüden aufspielen, aber es gibt dazu doch schon Einiges zu sagen. Zum Beispiel, dass natürlich nicht nur Politiker sich äusserst unbescheiden, oft sogar unverschämt aus der Kiste der Plattitüden bedienen, denn im soeben erschienen Quartalsbrief meiner Bank lese ich: „In Zeiten eines schwierigen ökonomischen Umfeldes werden wir mit einer präzise und sorgfältig konzipierten, ausgewogenen Finanzpolitik den unberechenbaren und komplexen Herausforderungen der neuen Marktsituation entgegentreten, um uns strategisch günstig in der dynamischen und veränderten ökonomischen Landschaft zu positionieren.“ Jetzt kenne ich also die Strategie meiner Bank ganz genau und kann ihr weiterhin zuversichtlich mein Erspartes anvertrauen. Auch die Sprache vieler Führungskräfte ist von wichtigtuerischen Worthülsen durchsetzt. Man übernimmt nicht mehr Verantwortung, sondern den «Lead», man erbringt nicht eine Leistung, sondern man «performt». Es zählt als «Erfolgsfaktor», sich ständig «proaktiv» zu «challengen». Solche Phrasen sind natürlich immer «steigerungsfähig», denn es gibt nichts, was nicht «zeitnah» «getoppt» werden könnte. In den Chefetagen ist es mittlerweile gang und gäbe, sich mit englischen Schlagwörtern zu schmücken. Aber auch diese entpuppen sich beim genauen Hinsehen als Worthülsen. Sie können leicht als Gemeinplätze oder Redeblumen entlarvt werden. Aber auch im Deutschen sind solch abgedroschenen Banalitäten gang und gäbe. Nicht wenige Internetseiten bieten Ihnen ein «passgenaues, innovatives Angebot» oder «massgeschneiderte Lösungen». Über die Begriffe Aspekt, Modul und System kommen Sie nirgends hinweg. Im Fachjargon heissen diese drei Worte Plastikwörter, weil man sie überall einsetzten kann, um den Eindruck von Wichtigkeit zu erwecken. Und sprechen Sie um Himmels Willen bloss nie von Problemen! Herausforderungen, das ist der Terminus der Stunde: Das klingt nicht nur besser, sondern impliziert etwas Aktives, Positives, suggeriert eine wichtige Aufgabe, tönt nach Abenteuer und nach angestacheltem Ehrgeiz.
Ein echter Experte für Phrasen war Karl Kraus. Er hatte eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Die Fackel“ herausgegeben, mit einem erklärten Ziel: „Was hier geplant wird, ist nichts als eine Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes.“ Eine der zur Zeit wohl populärsten Floskeln lautet: « Das ist eine gute Frage. » Dabei ist sie in den allermeisten Fällen nicht als Kompliment gemeint. Böse Zungen - und man attestiert mir eine solche - behaupten die hauptsächliche Funktion dieser Floskel sei Zeit herauszuschinden. Der Zeitgewinn, denn man sich damit verschafft, ist allerdings höchstens geeignet, die erste Schrecksekunde zu überwinden, bevor man sich dann doch entweder eine Antwort zusammenschustern oder seine Ahnungslosigkeit eingestehen muss.
Normale Sprache kommt gemäss einer kürzlich durchgeführten Umfrage im Geschäftsleben erstaunlich gut an. Einfache Formulierung statt umständliche Floskeln sei angesagt. Falls Sie sich jedoch gerne in den Sphären der Floskeln bewegen, so kann ich ihnen das Buch „Ich bin da ganz bei Ihnen. Das Wörterbuch der unverzichtbaren Bürofloskeln“ von Hermann Ehmann empfehlen oder eine Publikation von Gerold Brütsch-Prévot mit dem Titel: „Danke für Ihre Bemühungen ... und weiter Floskeln und Phrasen.“ Nach einem geselligen Abend oder einer Familienfeier fliegen Abschiedsfloskeln herum wie Gummibälle. Geradezu klassische Floskeln finden sich wenn jemand im Beruf gescheitert ist: „Ich habe beschlossen meinem Lebensweg eine neue Richtung zu geben“ oder „Ich möchte eine neue Herausforderung annehmen.“ Sattsam bekannt ist auch die berühmte Floskel: «Wir ermitteln in alle Richtungen.» Dabei macht jede Floskel für sich noch kein schlechtes Deutsch aus. Allein ihr unablässiger, zwanghafter und unbewusster Gebrauch weist ihre Verwender als Menschen aus, die sich kaum, nicht hinreichend oder gar nicht mehr der Mühe sorgfältiger und präziser Formulierung unterziehen.
Ganz in der Nähe von Phrasen ist das Geschwätz. Als Beispiel ein Originalzitat aus dem Lehrplan 21 der Schweiz: „Die Schülerinnen und Schüler können sich singend in der Gruppe wahrnehmen und ihre Stimme im chorischen Singen differenziert einsetzen.“ Ein reines Geschwurbel. Früher hiess das prägnant „Gesangsunterricht“.
Im Gegensatz zu den offiziellen Sprachen handelt es sich beim sogenannten Jargon (englisch slang, deutsch: Kauderwelsch oder Fachchinesisch) um eine Sondersprache mit einem nicht standardisierten Wortschatz. Der Begriff ‘Jargon’ steht im Französischen ursprünglich für ein unverständliches Gemurmel, jedoch auch für Vogelgezwitscher! (Twitter lässt grüssen.) Jargon bezeichnet ein (nicht allgemein verständliches) sondersprachliches Sprachgut bestimmter sozialer Schichten oder Berufsgruppen. So etwa die Gefängnissprache, Jugendsprache, der Netzjargon, die Schülersprache, Druckersprache, Jägersprache, Seemannssprache, Verwaltungssprache oder das Juristendeutsch. „Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie“ ist der Titel eines ideologiekritischen Werkes von Theodor W. Adorno. Gegenstand dieses Buches ist eine Sprachkritik, die sich gegen einen damals verbreiteten Jargon wendet, der dem Verfasser im Deutschland der Nachkriegszeit vor allem bei Funktionsträgern an offiziellen Anlässen und mehr noch in Veröffentlichungen auffiel.
In vielen Firmen ist Jargon eher Regel als Ausnahme. Doch entgegen dem in der Geschäftswelt weitverbreiteten Irrglauben wirken – wenn man einer gross angelegten Umfrage glauben darf - Führungskräfte, die Geschäftsjargon verwenden, weniger sympathisch und weniger glaubwürdig als solche, die auf Businessfloskeln verzichten. Und nicht nur das, sie wirken erst noch weniger kompetent. Wohlgemerkt: Notwendige und inhaltlich bedeutsame Fachsprache ist kein Jargon und darf verwendet werden. Aber Vorsicht: Wer jahrelang Jargon ausgesetzt ist, droht diesen selbst zu übernehmen. Doch es lohnt sich nach einer guten und einfachen Formulierung zu suchen, anstatt auf vorgefertigte Phrasen zurückzugreifen
Bedenken Sie bloss, welchen Reichtum wir anhäufen könnten, wenn wir jedes Mal, wenn wir eine Phrase, Plattitüde oder Floskel lesen oder uns anhören müssen, einen Fünfliber bekämen!