Nasenstüber

Kolumnen

Das verhinderte Drehbuch

Leseprobe aus "NASENSTÜBER 3 - Fragmente"



Schon seit längerer Zeit träume ich davon etwas Spezielles „zu machen“, nämlich ein Drehbuch zu verfassen. Aber bevor ich tüchtig und beherzt in die Tastatur greifen konnte, musste ich mich als Novize für filmische Literatur erst einmal mit der Materie vertraut machen. Als Einstieg in das Thema bemühte ich zunächst zeitgemäss Wikipedia.„Ein Drehbuch,“ so begann der einschlägige Abschnitt „ist ein Arbeitstext, der die Vision eines Filmes in allen relevanten Details beschreibt und sämtliche Dialoge enthält.“ Na ja, das entsprach so in etwa meinen vagen Vorstellungen. „Die besondere Herausforderung besteht darin, allein mit den Mitteln der Sprache eine mehrdimensional erzählte Geschichte darzustellen, die sich neben der Sprache – in Form von Dialogen – auch über das Bild und den Ton ausdrückt. Dabei sollte das Drehbuch jene vorfilmische Textform darstellen, die beim Lesen ein Echtzeiterlebnis vermittelt. Dies bedeutet, dass der Film in etwa so lange dauern wird, wie das Lesen des Drehbuchs Zeit braucht.“ Alles klar. Aber viel hatte ich mit dieser Passage noch nicht gelernt, insbesondere war er überhaupt keine Anleitung um ein Drehbuch schreiben zu können. Das war eher so ein Pauschalbeschrieb.
Des Weiteren hiess es: „Die Funktion eines Drehbuches ist es, Dreharbeiten zu organisieren.“ Das klang nun bereits etwas konziser, aber konkret half auch diese Plattitüde nicht weiter.
Da ich selber auch noch nie ein Drehbuch gelesen hatte, musste ich mich zunächst darüber schlau machen, wie denn ein Drehbuch überhaupt aussieht. Das Internet half auch hier zunächst weiter, denn schliesslich fand ich eine Seite, die wie ein Kochbuch nach dem Motto: “Man nehme...“, minutiös die Puzzle-Teile eines Drehbuches beschrieb. „Eine Drehbuch-Szene beginnt immer mit ihrer ÜBERSCHRIFT,“, las ich da „welche anzeigt, ob die folgende Handlung drinnen (INN.) oder draussen (AUSS.) und an welchem Ort sie spielt, inwieweit dort die Sonne scheint oder eben nicht.“ Es folgte ein Beispiel: INN. BAR – TAG . AUSS. HINTERHOF – NACHT. “Die Angabe des Schauplatzes besteht oftmals aus zwei Teilen: dem allgemeinen und dem konkreten Schauplatz: Wenn die zweite Angabe die erste präzisiert, werden beide durch Schrägstrich (/) miteinander verbunden, z.B. WOHNUNG / KÜCHE.
Wenn beide Schauplätze einen unterschiedlichen Charakter aufweisen, wird zuerst der konkrete Schauplatz und dahinter der generelle Schauplatz genannt. Beide sind durch einen Gedankenstrich (–) voneinander getrennt, z.B. AUTO – LANDSTRASSE. Wenn allein in der Zeit gesprungen wird, reicht ein SPÄTER. Sollte sich jedoch nur die Lichtsituation verändert haben, schreibt man SPÄTER – ABENDS oder SPÄTER – NACHT.“
Angaben zur Lichtsituation einer Szene seien deswegen wichtig, weil sie anzeigen, inwieweit bei einer eventuellen Realisierung Scheinwerfer, elektrische Anschlüsse usw. nötig sein werden. Also ein respektabler Beitrag zum Kostenfaktor. Am günstigsten lasse sich eine Handlung abfilmen, die tagsüber im Freien spielt. Wer hätte das gedacht.
Unter der Überschrift habe eine Beschreibung der Handlung in der Gegenwartsform (Präsens) zu folgen, was mit folgendem Beispiel illustriert wurde: INN. LIMOUSINE – TAG, WERNER und REBEKKA auf dem Rücksitz. Werner beugt sich vor übereicht Rebekka ein in Geschenkpapier eingepacktes Päckchen.
Beim Lesen dieser Drehbuchanleitung war mir aufgefallen, dass immer mal wieder Wörter in Grossbuchstaben geschrieben waren, aber einen Zusammenhang konnte ich leider nicht eruieren. Aber auch hier folgte die Kochbuchanleitung auf dem Fusse. „Folgende Angaben werden in GROSSBUCHSTABEN wiedergegeben: INN.(für innen) oder AUSS.(für aussen), der Schauplatz (also zum Beispiel WOHNZIMMER) und TAG oder NACHT (gegebenenfalls DÄMMERUNG oder andere Lichtstimmungen wie MORGEN, SPÄTER NACHMITTAG), ein CHARAKTER, wenn er oder sie zum ersten Mal im Beschreibungstext einer Szene auftaucht, der NAME DES CHARAKTERS über dem Dialog, EINSTELLUNGEN, KAMERAANWEISUNGEN und TÖNE (z.B. NAH, KAMERA FÄHRT ZURÜCK, Martin POLTERT die Treppe hinunter)“.
Kamera-Anweisungen seien tunlichst zu vermeiden, wenn sie aber unumgänglich seien, so werden auch diese in GROSSBUCHSTABEN wiedergegeben, hiess es weiter.
Endlich folgte ein Hinweis, der sowohl den Drehbuchautor als auch den späteren Kinobesucher erfreut: „Öfter als man denkt, ist es möglich, einen langen Wortwechsel durch eine kurze rein visuelle Szene zu ersetzen. Diese Möglichkeit ist fast immer vorzuziehen!“ Das wiederum war eine absolut umwerfende Neuigkeit, wenn man bedenkt, dass es sich bei den erwähnten Richtlinien um eine Vorlage für einen zukünftigen Film handelt. Als nächstes fand ich eine einschlägige Seite mit detaillierten Formatangaben für die Gestaltung eines Drehbuchs, die sich wie die Aufzeichnungen eines Kartographen – pardon eines Geomatikers – lesen. Sie seien relativ zu einer Seitengröße von DIN-A4 aufzufassen. „Der Kopfzeilen-Bereich eines Drehbuchs misst ungefähr 2 Zentimeter, der Fusszeilen-Bereich 2,5 Zentimeter. Der beschreibende Text soll 4 cm vom linken Seitenrand beginnen und 1,5 cm vom rechten Seitenrand enden. Der Dialog beginnt 6 cm vom linken Seitenrand und endet 6 cm vor dem rechten Seitenrand. Die Anweisungen in Klammern zum Dialog beginnen 8 cm vom linken Seitenrand und enden 7,5 cm vor dem rechten Seitenrand. Der NAME des Sprechers (über dem Dialog oder - gegebenenfalls - den Anweisungen in Klammern) beginnt 8 - 10 cm vom linken Seitenrand. Angaben zum Übergang von einer Szene zur anderen (wie SCHNITT AUF oder ÜBERBLENDE) beginnen 17 cm vom linken Seitenrand. Die Seitennummer steht in der oberen rechten Ecke und beginnt 18,5 cm vom linken Seitenrand.“ Mit diesen präzisen Angaben kann man ja fast an der Internationalen Raumstation andocken und sie kaufte mir schier den Schneid ab, ein Drehbuch verfassen zu wollen.
Als ich am Stamm meines Vereins das Thema „Drehbuch“ und meine diesbezügliche Verzweiflung zur Sprache brachte, wurde ich laut ausgelacht. „Ja weisst Du denn nicht, dass es mittlerweile unter dem inspirierten Namen ‚Dramaqueen’ eine ausgeklügelte Software für das erleichterte Erstellen eines Drehbuches gibt?“ wurde ich gefragt. Na ja, sowas muss einem erst gesagt werden. Die weitere Unterhaltung mit meinen Vereinskollegen informierte mich darüber, dass ein Drehbuch den Verlauf einer Film-Handlung auf ca. einer Seite pro Minute schildert. Ein 1 1/2-Stunden-Film wird so auf ungefähr 90, ein Zweistundenfilm auf ca. 120 Drehbuchseiten wiedergegeben,“ wurde ich aufgeklärt. Neben all diesen bereits erwähnten Formatierungsangaben seien von einem Autor auch noch Montagetechniken, Spielanweisung, Szenenübergänge und einiges mehr in einem Drehbuch festzuhalten.
Ich habe bis heute nicht verstanden, warum man so etwas „Buch“ nennt, denn lesen im eigentlichen Sinn, nämlich demjenigen einer flüssigen kontinuierlichen Informationsaufnahme, kann man eine solche filmtechnische Betriebsanleitung, respektive ein solchermassen formatiertes kinematographisches Kochbuch, ja ganz und gar nicht. Besonders fasziniert hat mich der Passus in der Drehbuchanleitung, der besagt, dass es an manchen Stellen zulässig sein kann, die Handlung oder den Dialog nicht vollständig auszuführen, sondern die exakte Ausführung den Darstellern zu überlassen. Gemäss Instruktionen ist in diesem Fall ist im Drehbuch der Vermerk AD LIB (lateinisch ad libitum für ‘nach Belieben’) vorzusehen, der den Schauspieler darauf hinweist, dass er innerhalb des Szenenkontextes nach eigenem Ermessen handeln oder sprechen kann. Wenn man also als Drehbuchautor wüsste, dass der Film mit besonders talentierten Schauspielern besetzt wird, so wäre das Erstellen eines Drehbuches geradezu simpel, denn man könnte sich als Autor mit den Szenenüberschriften, also den Angaben zum Schauplatz und zur Tageszeit und auf den Standpunkt der Kamera, vollauf begnügen und sich sämtliche Dialoge sparen.
Ach wissen Sie was: Ich lass’ das Ganze lieber bleiben. Abgesehen davon, dass mir keine filmwürdige Geschichte einfällt, die ich in ein Drehbuch packen könnte, so sind mir diese scheusslichen Formatierungsangaben total zu wider. Aber Sie, geneigte Leserin, geneigter Leser, mit Ihrem unerschöpflichen Ideenfundus, haben ja nun obenstehend alle nötigen Angaben, um ein perfektes Drehbuch schreiben zu können.

PS: Während ich diesen Text schreibe, hält das Coronavirus die Welt in Atem. Die Welt steht sozusagen still und ich befürchte, dass sie sich in die entgegengesetzte Richtung zu drehen beginnt. „Die Virologen und Epidemiologen diktieren derzeit den Politikern das Drehbuch ihres Handelns,“ schreiben die Medien. Es hat mich etwas gewurmt, dass erstere offenbar die Formatierungsvorschriften eines solchen Buches gut zu kennen scheinen.