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Kolumnen

Erikativ oder Der geplünderte Wortschatz

Beim Wortschatz handelt es sich um die Gesamtheit aller Wörter einer Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt oder um die Gesamtheit aller Wörter einer Sprache, die ein einzelner Sprecher kennt oder verwendet. Zwei Formen des Wortschatzes werden unterschieden: 1. der aktive oder produktive Wortschatz, der vor allem beim Sprechen verwendet wird – da wir uns ja im numismatischen Zeitalter befinden, muss eben das Geld zum Vergleich herhalten - also zur Verbildlichung, was man an Geldmenge gerade im Portemonnaie mit sich herumträgt und zeitnah ausgeben kann, und 2. der passive oder rezeptive Wortschatz, d.h. jener, der meist nur zum Verstehen gesprochener und geschriebener Texte beiträgt - also so etwas wie ein Konto bei einer Bank, auf das man bei Bedarf zurückgreifen kann.
Nach Schätzung des Schatzmeisters der Deutschen Sprache, Konrad Duden, umfasst der Wortschatz der deutschen Standardsprache (Alltagssprache) zirka 75’000 Wörter. Die Gesamtgrösse des deutschen Wortschatzes wird jedoch auf mehrere Millionen Wörter geschätzt. Das scheint ein stattliches Quantum zu sein. Aber wer heutzutage Artikel in den gebührend subventionierten Printmedien und den Informationsportalen im Internet liest, dem kommt es eher vor als sei die grösste Menge dieses Schatzes im Silbersee versunken. Nur einige „in“-Wörter – die mantramässig repetiert, fast in jedem Artikel oder jeder Mittteilung zu finden sind - schaffen es noch die Zeit zu überleben. Modebegriffe, die für alles herhalten müssen, was irgendwie innovativ, kreativ oder avantgardistisch klingt. Oft endet die Konversation dann in einem unverständlichen, inhaltslosen Geschwurbel. Die differenzierten, treffenden, klassischen deutschen Ausdrücke verarmen.
Die aktuelle, generelle Krise scheint sich auch auf die deutschen Wörter übertragen zu haben. Aus diesem Grunde hat der erwähnte Direktor des Wortschatzamtes mit dem neuen Wörterbuch „Unsere Wörter des Jahrzehnts“ eine Vielzahl von Wörtern, die innerhalb des letzten Jahrzehnts neu in den Duden aufgenommen worden sind, auf den Markt geworfen. Ganz nach der Maxime: „Sprache spiegelt das Leben, Wörter den Geist der Zeit“. In der Tat sind einem viele der neuen Wörter so fremd, dass man sich in einer anderen Sprache als dem Deutschen wähnt. Aber die Globalisierung macht eben auch beim Wortschatz nicht halt.
Daneben gibt es aber auch andere Varianten der Sprachverarmung, d.h. der Plünderung des Wortschatzes. Viele Jugendliche lesen heute kaum mehr etwas und wenn überhaupt, dann auf ihrem Smartphone, irgendwelche Messages der Sozialmediengemeinde oder sonstige leicht verdauliche Online-Informationen. Diese Art Lektüre schränkt den Wortschatz massiv ein, denn die Sprache, derer sich die Autoren in diesen Texten bedienen, ist in der Tat beschämend banal und trivial. Kein Wunder bestehen viele Betriebs- oder Bauanleitungen nunmehr bloss aus Piktogrammen.
Auch das gepflegte Sprechen ist dekadent geworden. Schludriges Deutsch und autoritärer Schönsprech ramponieren die Kommunikation. Dem Genitiv und Dativ geht es sowieso seit längerem an den Kragen. Dafür vermehren sich die Kommas und Apostrophe wie die Kaninchen und tauchen auf, wo sie nicht hingehören. Gross- oder Kleinschreibung gleicht einem Würfelspiel. Krude Orthografie und wirre Sätze verstärken oft geradezu den Eindruck, der Sprachgebrauch setze ein Denkverbot voraus. Der deutsche Grünen-Vorsitzende Robert Habeck wird mit den Worten zitiert: „Die sprachliche Verrohung bereitet der gesellschaftlichen Verrohung den Weg.“ Hoffentlich bekommt er nicht Recht.
Aber wir dürfen nicht nur die jüngeren Generationen zu Totengräbern der deutschen Sprache machen. Einer Frau Erika Fuchs, verdanken wir nämlich die Popularität des Inflektivs. Letzterer ist eine infinite und unflektierte Verbform, die im Deutschen durch deverbale Reduktion, d. h. durch Weglassen der Infinitivendung -n oder -en, gebildet wird (beispielsweise seufz von seufzen, purzel von purzeln). Dabei handelt es sich um eine Adaptation aus dem Englischen. Dort entspricht dem Inflektiv das Grundwort des Infinitivs ohne „to“ (sigh, cough), das auch als Nominalstamm gedeutet werden kann. Der grammatikalische Wandel bewirkt einen Verlust von Flexionsendungen. In Deutschland wird der Inflektiv scherzhaft auch als „Erikativ“ bezeichnet, eben nach der erwähnten Erika Fuchs, die als Übersetzerin der Micky-Maus-Comics diese grammatische Form im Deutschen populär machte. Einige ihrer auf ihren Wortstamm reduzierte Verben, haben als »grummel«, »ächz«, »würg« oder »bibber« Eingang in die Alltagssprache gefunden und kommen dem Trend sich auch sprachlich auf das Allernötigste zu beschränken sehr entgegen.
Im Gegensatz zu Habeck meint Wolfgang Klein, der Leiter des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache (DWDS), der Zustand der deutschen Sprache sei „hervorragend“. Nur wenige andere Sprachen besässen „einen derart reichen Wortschatz“. Allein in den letzten hundert Jahren habe er um eine Million Wörter zugenommen. Das ist mehr als erstaunlich. Aber ich wette mal, die „millenials“ und „digital natives“ haben nur einen winzigen Bruchteil zu diesem Zuwachs beigetragen und bedienen sich nur eines minimalen Quantums. Aber auch die älteren Semester bemühen sich leider zunehmend weniger um eine kultivierte, stilvolle und anständige Sprache.
Ohne in die Genderdebatte eingreifen zu wollen, möchte ich doch festhalten, dass sich die Sprache gewöhnlich im Laufe der Zeit an die Gepflogenheiten der Menschen anpasst. Mit den Gendersternchen und all den anderen genderübergreifenden Stilblüten erhofft man sich das Umgekehrte: Man ändert zuerst die Sprache und glaubt, das werde sich dann automatisch auf das Bewusstsein der Menschen auswirken. Wenig aussichtsreich.
Gleichzeitig mit der Kapitulation vor den Regeln der deutschen Sprache betreiben moralisierende Ordnungskräfte eine Aufrüstung, nämlich die Monopolisten der „political correctness“. Die vom Duden vertretene Sprach-Institution verliert an Einfluss. Eine Sprach-Sekte mit dem programmatischen Ziel der political correctness missioniert unerbittlich. Sie drückt nicht mehr aus, was Sache ist, sondern verharmlost, überzuckert und beschönigt die Wahrheit bis zur Unkenntlichkeit.
Gedanken brauchen eine in sich stimmige sprachliche Form. Einen guten Kaffee möchte man ja auch nicht aus einem Pappbecher trinken.