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Kolumnen

Verloren: Die Kunst des Debattierens

Die Kunst des Debattierens ist uns abhanden gekommen. Kaum einer beherrscht sie heutzutage noch. Man fragt sich woran das liegt. Zum einen ist es ein Problem, dass heutzutage praktisch jede Diskussion sofort politisiert wird, zum andern gibt es in vielen Bereichen zu viel Konsens, kaum Differenzen, sodass praktisch keine richtige Diskussion mehr entstehen kann. Man sucht sich – weil es bequem ist und keinen Störfaktor zulässt - ein Forum der Gleichgesinnten. Die sozialen Medien bieten dafür eine geradezu ideale Plattform an. Mainstream ist gefragt, menschliches Konformitätsverhalten, denn der Mensch ist prinzipiell nicht gern anderer Meinung. Er passt sich lieber an. Menschen lechzen auch nach Bestätigung und diese finden sie in Kreisen, wo man sich gegenseitig in einer Meinung, Ideologie, Auffassung oder Idee zustimmt. Die selbstreferenzielle Internet-Community, die sich regelmässig selbst beipflichtet, ist ein klassisches Beispiel. Warum wollen wir Gegenargumente nicht hören? Überaus viele Menschen meiden Informationen, die nicht zu ihrer Weltsicht passen. Lange nahmen Fachleute an, dass dadurch eben das Selbstbild bedroht werde. Tatsächlich scheint es aber eher an Überheblichkeit und Zorn zu liegen. Das Geschrei der Social-Media-Gestalten, die es um die Wette schwer haben, Problem-Flausen auszuhecken, verpassen sogenannten Debatten seit Jahren eine zornige Grundierung.
Eigentlich sind wir es in unserer bewährten und bislang stabilen Demokratie mit ihrem ausgeprägten Minderheitenschutz gewohnt, die Dinge offen auszudiskutieren, um danach Mehrheitsentscheide zu fällen und umzusetzen und sich nicht von einer Handvoll Leute, die sich unwohl fühlen, mit Gebrüll die politische Agenda aufzwingen zu lassen. Wie kommt es zu diesem Despotismus lautstarker, offensiver, nicht repräsentativer Minderheiten? Eine Meinung ist nie bloss jemandes Meinung. Auch in meiner Meinung hallen die Stimmen anderer mit. Ich befinde mich in einem sich ständig verändernden Meinungsumfeld. Minderheiten wiederum können das Meinungsumfeld auf eine Art und Weise manipulieren, dass der Schein entsteht, es handle sich um einen Mainstream. Vor allem in sozialen Netzwerken, wo man ohnehin nicht sicher ist, ob die geäusserten Meinungen von realen Personen, Trolls oder Bots – also Pseudopersonen – stammen, grassiert aktuell diese subversive Form der Manipulation.
Anstelle des Debattierens ist das Polemisieren getreten. Polemisieren heisst, gegen eine andere Ansicht anzukämpfen. Der Polemiker sucht eben nicht den Konsens, sondern versucht in einem verbalen Zwist, der eigentlich ein Wettstreit sein sollte, seinen Argumenten – vielfach mit rhetorischen Tricks - zum Durchbruch zu verhelfen. Ziel ist es dabei, die eigene Meinung auf Teufel komm raus auch dann durchzusetzen, wenn sie sachlich nicht oder nur teilweise mit der Realität übereinstimmt. Der Begriff Polemik hat historisch einen Wandel erfahren. Die ursprüngliche Bedeutung war Streitkunst, ein literarischer oder wissenschaftlicher Streit, eine gelehrte Fehde. In den letzten Jahren benutzen die Polemiker jedoch eine vorwiegend aggressive, aufmüpfige, meist gehässige ja fast kriegerische Sprache. Das Vokabular, dessen sich diese Leute bedienen, wird zunehmend martialischer, streitsüchtiger und kämpferischer.
Die Franzosen sprechen von «terribles simplificateurs». Gemeint sind damit Personen, bei denen die Erregung das Wissen ersetzt. Argumente in Debatten werden zunehmend durch Glaubenssätze ersetzt. Es herrscht Diffamierung statt Debattieren. Wenn ich keine Argumente habe, dann bleiben mir nur Slogans, wie zum Beispiel der Begriff «Nazi-Keule» aus der populistischen Folklore, welcher jedes Argument ersetzt.
Wir arbeiten zusehends mit zugespitzten Argumenten und das ist nicht dasselbe wie eine Parole. Die Linke, und das betrifft Politik und Medien, brüllt diese Parolen besonders laut, konzentriert und koordiniert. Das macht sie aber nicht intelligenter.
Zeichneten sich bisher kontroverse Debatten durch die intellektuelle Schärfe der Beteiligten aus, triumphiert heute die Lautstärke über das Argument.
Ein bestimmter Grad an Uneinsichtigkeit lässt Debatten logischerweise scheitern.
Aber keine Debatte verträgt auch zu viel Konsens. Wenn in einer Runde kaum Differenzen bestehen, so verpufft das Gespräch schon im Ansatz. Eine solche Situation ist an Groteske nicht zu überbieten, wenn sich die Gesprächsteilnehmer vor lauter Einigkeit sogar gegenseitig die Sätze beenden.
Zur Zeit entzündet sich ein Streit über den Wert und die korrekte Form des Debattierens an Twitter. Beim Erwerb des Kurznachrichtendienstes für 44 Milliarden Dollar, hatte der Käufer Elon Musk erklärt, dass für die Zukunft der Zivilisation ein digitaler Marktplatz wichtig sei, auf dem eine Vielzahl von Meinungen debattiert werden könne. Aber dieser fromme Wunsch wird von der Woke- und Cancel-Kultur zunichte gemacht respektive ad absurdum geführt. Schon länger hat diese Community die Meinungshoheit über praktisch alles an sich gerissen, indem sie darauf abzielt, alles zu reglementieren, was man öffentlich sagen, was man tun muss beziehungsweise was man öffentlich nicht sagen, nicht tun darf, wenn man nicht moralisch verurteilt werden will. Wegen des Drucks und der Beleidigungen einer Minderheit wird ein Teil der Bevölkerung bestraft und infantilisiert. Viele Woke-Aktivisten fühlen sich durch logisches Denken intellektuell belästigt. Weil es zu anstrengend ist zu denken und zu diskutieren, bezieht man bloss Position und zeigt Haltung. Es braucht ein gerüttelt Mass an Zivilcourage um die Denk- und Meinungsfreiheit gegen dieses Bashing der Woke- und Cancel-Kultur zu verteidigen, eine Einengung des Debattenraumes zu verhindern. Denn die linke Cancel-Kultur verengt den Korridor des Sagbaren immer mehr. Es geht um das Schlachtfeld sprach-ideologischer Deutungshoheit, aber «die Meinungsfreiheit endet nicht dort, wo selbsternannte Kulturkrieger die Grenzen ziehen» wie Claude Cueni schreibt. Es gibt heutzutage kaum einen einfacheren Weg, verdutzte Gesichter zu provozieren, als etwas über die Wokeness-Debatte zu murmeln. Über Worte, die man nicht mehr sagen darf. Über Worte, die man neu sagen sollte. Über Sprache, die sich verändert. Auch gibt es kaum einen einfacheren Weg, um die ach so teure Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, als in einem Artikel etwas über diese Wokeness-Debatte zu schreiben. Nur schon das Nachdenken darüber, wie inklusiv unsere Sprache sein müsste, bringt viele Menschen in Rage. Es ist ein sogenanntes Aufregerthema und die Medien wissen das ganz genau. Erforderlich und der ganzen Sache wesentlich dienlicher, wäre eine unaufgeregte und nützliche Wokeness-Debatte.
Eigentlich hätten die Marginalisierten durch öffentliche Plattformen wie eben Twitter zum ersten Mal die uneingeschränkte Möglichkeit, Institutionen zu widersprechen, die nur allzu lange als Cerberus eines akzeptierten Diskurses gewaltet haben. Diese Türhüter entscheiden immer noch darüber, was en vogue ist. Und wer nicht in Gleichschritt fällt, riskiert gecancelt zu werden. Die Ausgegrenzten jedoch haben inzwischen den Bogen weit überspannt. Sie haben sich nicht nur der politischen Agenda bemächtigt, sondern spielen munter den nach demokratischen Spielregeln kaum zu überbietenden Trumpf der Opferrolle aus.
In aller Leute Mund ist der Begriff «aktuelle Klimadebatte». In der Klimadebatte tun sich vermeintliche Realisten mit Lösungen hervor und werfen der Gegenseite eine Moralisierung vor. Dabei argumentieren sie selbst ideologisch, während der Klimaschutz von der politischen Rechten nur noch als Zumutung oder als sozial unverträglich wahrgenommen wird. In der Tat ist die Transformation hin zu einer (nahezu) emissionsfreien Wirtschaft und Gesellschaft mit einem gerüttelt Mass an Herausforderungen verbunden. Zunehmend rücken – meiner Meinung nach absolut zu Recht - die ökonomischen und sozialen Kosten dieses notwendigen Transformationsprozesses in den Fokus. Dabei wird Klimaschutz oft gegen Wohlstand, wirtschaftliche Entwicklung und Arbeitsplätze ausgespielt. Teils werden sogar interessensgeleitete Zweifel gesät, um den Eindruck zu erwecken, die Wissenschaften seien, was den "menschengemachten" Klimawandel angeht, uneins. Unter diesen Vorzeichen ist eine gesittete, auf Fakten basierte Debatte schwierig. «Der Klimawandel wird nicht durch woke Proteste in reichen Ländern gelöst, sondern durch Arbeiten, Erschaffen und Erbauen. Das Problem mit der Woke-Kultur ist, dass sie zu viele junge Menschen lehrte, das zu vergessen,» sagte der britische Autor Konstantin Kisin in einer Rede in Oxford. Die Tugendeliten der Universitäten meinen, mit «sprachlichem Waschzwang» würden sie die Welt verbessern. Dabei bräuchte es eigentlich eine unaufgeregte Debatte, denn wo die Diskussion unterbleibt, stirbt die Demokratie und ohne Diskussion bleibt die Chance auf bessere Lösungen auf der Strecke. Kontroverse Meinungen und zivilisierte Debatten sind die Vitamine einer gesunden Demokratie.
Diese Stimmung (um nicht zu schreiben dieses Klima), welche einen gesunden Dialog voraussetzt, gilt es zu pflegen, nota bene auch ausserhalb der Universitäten. Denn der Dialog und der offene Austausch der Argumente in Debatten gehören zu den wesentlichen Charakteristika einer funktionierenden Demokratie.
Eine weitere zur Zeit aufgeheizte Debatte ist die sogenannte «Genderdebatte».
Genderdebatten erörtern einen sich global verstärkenden und verschärfenden Dissens, bei dem die Konfliktlinien nicht nur zwischen den grossen Kulturräumen, sondern auch innerhalb einzelner Gesellschaften verlaufen. Die hierzulande grosse Zahl von moderaten Fortschrittlichen und erst recht die radikalere Avantgarde sind mit den von ihnen als Selbstverständlichkeiten empfundenen Gleichheitsideen im Weltmassstab eine Minderheit. Ob ihre Vorstellungen sich jemals global durchsetzen werden, erscheint heute sehr fraglich.
Deutschland ist das Land der Dichter, Denker und Debatten. In der Schweiz werden Andersdenkende als Feinde betrachtet. Während in der Schweiz immer noch dem überholten Ideal einer Konsensus-Demokratie nachgeeifert wird, zelebriert man beim nördlichen Nachbarn geradezu die lustvolle, knallharte jedoch faire Auseinandersetzung.
Viele Leute sind der Meinung, es löse Aversionen aus, sich mit Gegenpositionen zu beschäftigen und der Mensch meide schlechte Gefühle. Jegliche Beschäftigung mit einer anderen Sicht bedeute also bloss verschwendete Geistesmüh’. Leider werden sie in ihrer Meinung von Psychologen unterstützt, die argumentieren, dass die offensichtliche Borniertheit der anderen nur Frust oder Zorn erzeuge.
Die alten Griechen – genauer die Kyniker – nannten es «Parrhesia», Redefreiheit. Doch sie bedeutet nicht, dass man alles sagt, denn es ist gut, dass man nicht alles sagt. Es gibt schliesslich einen Benimm des Debattierens und Argumentierens. Man muss diesen lernen, üben und pflegen sowie stets wieder überprüfen. Ein solcher „Knigge“ bildet so etwas wie einen Verfassungsrahmen geistiger Freiheit. Und diese Verfassung sollte Werte wie Wahrheit, Objektivität, Tatsachentreue, Schlüssigkeit und Respekt hüten. Wer diesen Rahmen nicht akzeptiert, lehnt geistige Freiheit ab und ebnet ihren Gegnern und Verächtern das Feld.
Zum Glück gibt es ein paar Leute, die gemerkt haben, dass wir wieder anständige Debatten brauchen. Debattenbücher sind denn auch neuerdings im Trend. Ein aus meiner Sicht ganz ausgezeichnetes ist zum Beispiel «Canceln. Ein notwendiger Streit» (224 Seiten, Hanser, München). Wo gecancelt wird, geht es grob und unlogisch zu. Dieser Sammelband, mit Beiträgen von J.K. Rowling, Enid Blyton und Shakespeare unter anderen, hebt die angeheizte Diskussion auf ein intelligenteres Niveau. Dieses Buch tut der Cancel-Debatte gut, meint Martin Ebel, ein langjähriger Literaturredaktor. Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm wiederum ist eine der bekanntesten Stimmen, wenn es um Erziehungsfragen geht. Sie hat zahlreiche Bücher zum Thema veröffentlicht. Ihr neuestes Werk heisst «Angepasst, strebsam, unglücklich». Ein Debattenbuch, in welchem es um Erziehung und Kindheit in der Hochleistungsgesellschaft geht. Ebenfalls lesenswert.
Einige von Montaignes schönsten Essais sind der Frage gewidmet, wie man sich kontrovers im Gespräch unterhalten kann, ohne dass dies in Feindseligkeiten ausartet. Diese «Pensées» sollten Pflichtlektüre sein, denn eine Korrektur des aktuell aggressiven Verhaltens ist heute nötiger denn je.
Zum Schluss noch etwas ganz Erfreuliches: Soeben lese ich, dass es ein Bildungsprogramm von Young Enterprise Switzerland (YES) mit dem Namen „Jugend debattiert“ gibt. Mit dieser Methodik sollen Schülerinnen und Schüler die Grundlagen einer Debatte kennen lernen, wobei sie eine ihnen zugeloste Position vertreten müssen. Die Methode stammt aus dem USA, wurde in Deutschland weiterentwickelt und später in der Schweiz übernommen. Beim Wettbewerb «Jugend debattiert» erfahren die zwölf- bis 17-jährigen Teilnehmer erst 36 Stunden vor dem Auftritt, zu welchem Thema sie debattieren werden und ob sie die Pro- oder Contra-Position einnehmen. So müssen sie sich quasi sechs Mal vorbereiten, denn es werden drei Themen vorgegeben mit jeweils dafür und dagegen. Rund 10’000 Schülerinnen und Schüler lernen so jährlich die Grundlagen des Debattierens. Das Finale, an welchem 60 Personen teilnehmen, findet im Frühling in Bern statt.
Sie scheint offenbar wieder auferstanden zu sein, die Kunst des Debattierens. Man darf Hoffnung haben.