Nasenstüber

Kolumnen

Der Schrittsammler

Leseprobe aus "NASENSTÜBER 3 - Fragmente"

(Siehe "Bücher")

Jeden Morgen zur selben Zeit wie ich war auch er unterwegs. Immer wenn ich zur Bushaltestelle hinunterlief, fiel er mir auf, der etwas ältere Herr mit etwas wuscheligen Haaren, Hut und einem beigen Regenmantel. Man könnte meinen ein Abbild von Kommissar Maigret. Nennen wir ihn der Einfachheit halber Herrn R. Mit gesenktem Kopf und etwas vornüber geneigt, ging er gemütlichen oder gemächlichen Schrittes, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den Fahrweg entlang, als ob er seine Schritte zählte oder Schritte sammeln würde. Zuerst dachte ich mir überhaupt nichts dabei, denn ein Mann in seinem Alter war allenthalben gut für einen Morgenspaziergang und dass das Dritte Alter einem festgefahrenen Rhythmus folgt ist ja auch sattsam bekannt. Irgendwann begannen wir uns zu grüssen aber das war es denn auch an verbaler Kommunikation. Gelegentlich war Herr R. für ein paar Wochen verschwunden und ich begann mir jedes Mal schon ernsthafte Sorgen zu machen. Aber dann war er wieder da und „sammelte“ weiterhin seine Schritte. ‚Wie auch immer,‘ dachte ich ‘man kann ja allerlei Schritte sammeln: Schritte in die richtige Richtung, grosse, kleine, unregelmässige, zögerliche, feierliche oder erste Schritte.
Eines Tages kamen wir per Zufall ins Gespräch. Ich stolperte auf meinem Weg und er schaute instinktiv auf und mir direkt ins Gesicht. Nach den üblichen Höflichkeitsfloskeln ergriff ich die Gelegenheit, nahm allen Mut zusammen und fragte Herrn R. was er denn so mache ausser spazieren. „Ich bin ein Schrittsammler, ich sammle Schritte,“ sagte er mit einer Beiläufigkeit, die keine weiteren Fragen mehr zuliess. Da können Sie mir glauben, dass ich total verblüfft war. So eine Art Sammlung war mir nun noch niemals begegnet.
Ich hatte mir schon gedacht, dass der Mann etwa skurril sei aber ein Schrittsammler war nun wirklich etwas absolut unerwartet Exotisches, Eigentümliches und Sonderbares. Na ja, dachte ich mir, andere sammeln halt Konfektschachteln, Schneekugeln oder Kühlschrankmagnete. Auch nicht gerade besonders aufregend oder inspirierend. Und eigentlich ist es ja nicht verboten Schritte zu sammeln. Aber wie macht er denn dies? Fortwährend ging mir diese Frage durch den Kopf, sodass ich schliesslich meinen Freund Hubert, der im selben Quartier wohnt wie ich, dazu befragte. „Ja weisst Du,“ bemerkte dieser mit tragender, Ehrwürdigkeit heischender Stimme: „Herr R. ist ein sehr reicher Mann. Er sammelt Fortschritte.“ Da kam mir unwillkürlich eine Zitat von Friedreich Hundertwasser in den Sinn: „Wenn man vor dem Abgrund steht, dann ist der Rückschritt ein Fortschritt.“ „Herr R.,“ fuhr Hubert in vertraulichem Ton fort, „hat eine der weltweit grössten Sammlungen technologischer Fortschritte.“ Das also war des Pudels Kern. Trotz des – wie es mir schien – etwas weltfremden Benehmens und der sehr aussergewöhnlichen, abstrakten Tätigkeit, machte Herr R. einen absolut vernünftigen Eindruck auf mich.
Zum Thema Fortschritt meinte allerdings Georg Bernard Shaw: „Der vernünftige Mensch passt sich den gegebenen Bedingungen an, der unvernünftige versucht sie zu verändern. Deshalb ist der Fortschritt dem Wirken unvernünftiger Menschen geschuldet.“ Nicht nur das: Man kann unter Fortschritt auch das Weggehen verstehen.